Sehnsucht, Wölfe und neue Anfänge – Zettel des Sommers 2024

Die Füße im warmen Sand bis die Meereswelle heranstürmt – das blieb in diesem Sommer ein Wunsch. Stattdessen im Kopf nicht ausgelöschte Erinnerungen und eine Notiz von 2020:

Düne bei Paal 19 auf Texel

Die rote Ecke meiner Windjacke schiebt sich
in den Himmelsblick mit den weißen Schleiern
Wie dunkle Sandkörner rasen die
Mückenflecken in den Augen über den Strand
Eine Gang von fünf Hunden durchbricht
die Choreographie der Schnur von Menschen
Die Flut begnügt sich
mit weißen Schaumkronen
und der Wind rappelt
an der Tür der Strandhütte
Möwen haben Hieroglyphen gezeichnet
in das Modell der Sahara-Hügel
Die Löschfunktion wird das Wasser sein.   CB

Das früher beschworene „Sommerloch“ der Ereignis-Armut tat sich diesmal nicht auf. Stattdessen war den Nachrichten über Gewalt rund um die Erde und um die Ecke nicht zu entkommen. Selbst in den U-Bahnstationen oder in der Physio-Praxis flimmern Kriegsszenen mit Untertiteln. Aufgewachsen in einem Rotkäppchenweg stoße ich auf eine Fabel, die der Trauerredner und Schauspieler Carl Achleitner dem Süddeutsche Zeitung Magazin 2021 erzählt hat:

„…in jedem Menschen gibt es zwei Wölfe, die ihr Leben lang miteinander kämpfen. Der eine Wolf ist böse, seine Waffen sind Gier und Neid, Hass, Gewalt und Lüge. Der andere Wolf ist der gute, ihn zeichnen Gerechtigkeit aus, Großzügigkeit, Liebe.  Die Kinder fragen, welcher Wolf gewinnt?  Und der Großvater sagt, der, den du mehr fütterst. So schlicht die Geschichte ist, sie hat einen wahren Kern. Wenn wir den guten Wolf unser Leben lang füttern, bis er dick und wohlgenährt ist, dann wird es ein gutes Leben.“

In den Sommern der Kindheit gab es Glanzbilder zum Sammeln mit nur einem Wolf.

Zu hochgesteckt das Ziel eines guten Lebens in der aufgeheizten Atmosphäre dieses Sommers? Selbst Partei ergreifen, wenn Menschen ausgegrenzt werden? Vor drei Monaten wurde das seit 75 Jahren geltende Grundgesetz gefeiert mit Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Zu anstrengend für einzelne sich einzumischen, wo vieles vermeintlich so verfahren ist? Vor acht Jahren ermutigte Carolin Emcke in Frankfurt am Main als Friedenspreisträgerin die Zögernden:

„Wir können immer wieder anfangen. Was es dazu braucht? Nicht viel: etwas Haltung, etwa Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen: Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.“  CB