Romane eröffnen andere Perspektiven auf Raum und Zeit

Sie hatte Glück: mehr als 800 Seiten ungelesen fanden sich auf ihrem hastig gegriffenen E-Book auf der Intensivstation. „Bitternis“ hat die polnische Schriftstellerin Joanna Bator ihren Roman überschrieben, der fast hundert Jahre Familiengeschichte aus der Sicht der Frauen schildert. Es wird viel geschlachtet, gebraten, verwurstet, der Vater lehrt Berta den Umgang mit dem Fleisch und will sie mit einem Schlachter verheiraten. Doch sie liebt einen anderen, wird schwanger, begeht später mit dem Messer ein Verbrechen. (Ein solcher Vatermord habe sich im 19.Jahrhundert ereignet, hatte die Autorin erfahren.) Es riecht nach Blut, Alkohol, Schweiß, Dreck. Alle stecken fest, selbst als der bleierne Kommunismus dem „Wind of Change“ weicht und die Enkelin, die als erste studieren kann, schafft sie es nicht, ihre Träume auch nur ansatzweise zu verwirklichen. Das alles in Niederschlesien jenseits der deutschen Grenze – und doch so fern, dass hierzulande kaum jemand darum weiß- oder wissen möchte. Feministin Bator selbst ist Vegetarierin, Tierliebhaberin, PiS-Kritikerin und Philosophin, hat in London, Tokio und New York gelebt, schreibt jetzt in einem Vorort von Warschau.

Der sterile Raum auf der Intensivstation und später das Isolierzimmer wegen Covid machen es ihr leicht, sich mit den Frauen durch die beengten Räume, die vergebliche Suche nach einer anderen, besseren Zukunft zu bewegen. Nicht an der Bitternis zu ersticken. Und sich erinnern an die eigene Reise entlang der polnischen Ostseeküste im Juni vorbei an blühenden Hecken und Rapsfeldern, deren Duft sich mit dem aus einer Waffelbude mischte.

Ganz schön rätselhaft diese Buch-Umschläge: Warum scheint der Papageienkopf kopfüber so zufrieden? Und warum blickt einen die junge Frau lächelnd an hinter den Buchstaben eines solchen Titels?

Wenig mehr als 200 Seiten braucht Sigrid Nunez, um mit „Die Verletzlichen“ zurück in die Corona-Zeit zu führen. Mitten in ein New York, das jeder, der konnte, verlassen hat. Die namenlose Ich-Erzählerin landet in einer Art Wohngemeinschaft mit einem ihr unbekannten jungen Mann und dem Auftrag, sich um den zurückgelassenen Papagei „Eureka“ mit eigenem Zimmer zu kümmern. Lesend lässt sich der Erzählerin folgen, wenn sie sich erinnert an ihr Jugend-Vorbild Jane Godall oder die Hippiezeit. Es gibt zufällige Begegnungen, ein vergessenes Notizbuch auf einer Parkbank, die Schreibblockade und der Verlust des Selbstvertrauens. Ängste und Träume von Trump. Zu erfahren ist auch mehr über den Mythos der Büchse der Pandora., wobei sich in Corona-Zeiten die Frage stellt: Warum blieb die Hoffnung in der Büchse, als die Übel entwichen? Wozu noch langfristige Pläne, fragt sich die Ich-Erzählerin, offenbar auf der Suche nach einer neuen Form des Schreibens. Sie muss erleben, wie der junge Mann namens Giersch mit Eureka „aus meinem Leben, aus meinem Roman“ geht. Während sie zurückkehrt in ihre alte Wohnung und das Dasein als Schriftstellerin. CB

Sigrid Nunez „die Verletzlichen“, Übersetzt von Anette Grube. Aufbau Verlag, 224 Seiten, 22 €

Joanna Bator „Bitternis“. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp Verlag, 829 Seiten, 23 €

Schlaganfall – neue Lebenszeit (Folge 4)

Mein Schlaganfall ereignete sich am 4.Dezember. Die Folgen sind präsent. Aber auch anderes schleicht sich zaghaft wieder ein:  Zettelskrom über Bücher, aktuelle und wiederentdeckte, neu aufblühende Kontakte, Besuchspläne und einhändig zu schreibende Texte. Bald wird hier davon zu lesen sein. Nach diesem Einblick in meinen neuen Alltag.

Lange her die Wochen in der ambulanten neurologischen Reha. Gestern auf Rezept wieder dort zur wöchentlichen Ergotherapie. Ausnahmsweise zu früh am anderen Ende der Stadt, die Bahnen waren pünktlich. Ich erkenne nur einen „Kollegen“ wieder, der als Opfer eines brutalen Überfalls in eine wochenlange Verlängerung gegangen ist. Konzentriert tanzt eine jüngere Patientin mit dem Sporttherapeuten eine Schrittfolge quer durch den „Wartesaal“. Viele Türen, Sitzmöglichkeiten und ein Automat, dessen Kakao an Schulzeiten erinnert. Eine Therapeutin, die aus Südkorea stammt, sucht nach denen, die in wenigen Minuten mit ihr Atemgymnastik trainieren sollen. Da bin ich schon damit beschäftigt, ganz langsam knallgelbe, nicht klebrige Knete mit der linken Hand zu formen. Dass die Hand etwas spürt, gilt nach wie vor als positives Zeichen – und seien es Kälte oder schmerzhafte Verkrampfungen nachts um 3:15 Uhr.

Immer wieder kreisen meine Gedanken um die Zeit. Mein Vertrauen in Hausarzt, Neurologen oder Orthopäden sowie das eigene Wissen aus der Reha um die Unvergleichbarkeit der Krankheitsverläufe verhindern Internet-Recherchen über zeitliche Perspektiven nach einem Schlaganfall. Tag für Tag kann ich mich nur schwer an meine Langsamkeit gewöhnen: wenn sich die Zahnpastatube morgens im Bad wehrt, einhändiges Bügeln neue Falten kreiert, weit ausgreifende Armbewegungen erst das Anziehen des Mantels und das Umschnallen der Hundeleine ermöglichen. Im Restaurant dann Ergotherapie, um ein kleines Päckchen weicher Butter in Kontakt mit einer Scheibe Schwarzbrot zu bringen. In der Küche funktioniert es am besten, wenn die Eieruhr stumm bleibt und ich alle Zeit der Welt zu haben meine.

Erschöpft bin ich schneller und empfindlicher geworden. Fragen wie „Alles wieder beim Alten…?“  oder der Hinweis auf die Schwiegermutter, die mit 94 nach einem Schlaganfall ins Pflegeheim umzog, lassen Wut aufsteigen. Dabei weiß ich, dass auch Tipps für einen behindertengerecht ausgestatteten Automatik-Wagen gut gemeint sein können. Aber mir fehlt der vertraute Schutz aus Gelassenheit, Schlagfertigkeit und Humor. Entschuldigung für meine barschen Reaktionen. Und Dank an die, denen ich begegne und die – lange nicht gesehen- meinen, sie sähen Fortschritte bei Kraft und Beweglichkeit meines linken Arms und der Hand.  CB

Schlaganfall – Hoffnung auf mehr Geduld und Alltag (Folge 3)

Seit zwei Tagen befinde ich mich nach der ambulanten neurologischen Reha im Zustand „aktiver Nachsorge“. Es ist gelungen, den Stapel von Papieren zu ordnen, abzuheften und einige in Plastikhüllen oder Briefumschläge zu verstauen – letzteres eine akrobatische Übung, ohne die linke als gleichberechtigte Hand einsetzen zu können.  Die „schwache Hand“ (, wie sie der Orthopäde nennt,) hat per Rezept erste Ergotherapie-Termine ab Mitte Februar. Bis dahin zuhause elektronische Animation der Muskeln, noch minimale Kraftübungen mit Geräten, die mir auch ein Gitarrist empfahl, Alltagstraining mit Wäscheaufhängen, Spülmaschine betreuen, Rosenkohl schälen usw. …Einkaufen mit neu erworbenem „Hackenporsche“ hake ich als Bewegungstraining ab und bin froh, dass die beste Nachbarin von allen manches per Auto heranschafft.

Handyfoto zum Beginn der neurologischen Reha am 18.12.wie von allen Patientinnen und Patienten – damit niemand zwischen den Etagen und Behandlungsräumen verloren gehen kann.

Zwei Monate nach dem Schlaganfall bleibe ich dankbar für die freundschaftliche Ermutigung von vielen Seiten, die es mir leichter macht, Hilfe zu akzeptieren und Geduld mit der linken Hand zu haben. Kocht die hilflose Empörung hoch, versuche ich wie die US-Marinetaucher zu atmen – was so viel Konzentration verlangt, dass die Wut fortgetrieben wird. Stattdessen können Bilder auftauchen wie das vom sommerlichen Schwimmen in einem See. Ein Wunsch, ein Ziel, das sich auf der Intensivstation zwölf Stunden nach dem Schlaganfall das erste Mal vor meine Augen schob.

Kleine Erinnerungen an die ambulante Reha

Der Fahrdienst holt mich frühestens um 6:30 Uhr ab. Mit dem Rest Kaffee und im Mantel an der Tür gewartet, damit niemand klingelt und keiner wach wird.

Eine Mitpatientin entdeckt im Gespräch, dass ich Mitautorin des Mädchen-Aufklärungsbuches bin, dass ihr 1995 mit 14 eine Lehrerin lieh. Sie hat es heimlich unter der Bettdecke studiert.

Ein Mann wird morgens mit Rollstuhl zur Reha abgeholt. Einige Wochen später reicht ihm ein Rollator.

Reißverschlüsse können hakelig sein – ein Mitpatient rät zur Kletterhose mit breitem Elastikbund.

Jeder hat hier seine „Schwäche“ mehr oder weniger augenfällig. Bei manchen fällt sie erst auf, wenn sie bei Gleichgewichtsübungen nach der rettenden Ballettstange greifen. „So viel wie geht“ heißt es.

Frisches Wasser zapfen und viel trinken, lautet die Devise. Aber wie gut tut die Schokolade für 50 Cent aus dem Automaten – ein Geschmack von Schulzeit. Nur dass die Becher heute aus Porzellan sind.

Mit der VR-Brille in der Ergotherapie einen Drachen zu lenken versucht. Ein Kindertraum, denn der zu schwere Stoff-Drachen ist damals nie bis an Wolken gestoßen.

Tanztherapie bringt jeden zum Lächeln, auch die Traurigen,, denen die Sprache abhandengekommen ist. CB

Parkplatz in der Reha – Raum für Phantasien

Schlaganfall – Momentaufnahmen des Glücks (Folge 2)

Die ersten kritischen Wochen nach dem Schlaganfall sind vorbei, das alte Jahr auch. Dessen letzter Monat mit Stroke Unit, Intensivstation, der Zeit mit Covid und den ersten Tagen in der ambulanten neurologischen Reha, zu der mich der Fahrdienst ans andere Ende der Stadt bringt.  Auf Vergleiche mit den anderen im Trainingszeug bemühe ich mich zu verzichten. Im Alltag zuhause flippe ich gelegentlich aus, alleine im Kampf mit dem Öffnen einer Dose oder nasser Wäsche, viel schlimmer, wenn mein Mann zur Angriffsfläche wird. (Warum fällt mir gerade der Film „Systemsprenger“ ein als würde ich üben für die Titelrolle?)
Jetzt aber öffnen sich für alle die noch leeren Kalender 2024 und werden hoffentlich gefüllt mit glücklichen Momenten, optimistischen Gesundheits-Aussichten, überraschenden Herausforderungen, die bei aller Skepsis und Anstrengung in Zufriedenheit münden. Das alles in einer Welt, die mehr gelassene, versöhnliche und friedlichere Zeiten sehen wird als 2023. Das wünsche ich uns allen – und bin dankbar fürs Lesen meines „Zettelskroms“ und die Reaktionen online und persönlich.

Nun aber zu einigen Momenten des Glücks, die ich zu teilen versprochen habe:

Haarwäsche

Am dritten Tag auf der Intensivstation fragt ein Pfleger, was ich von einer Haarwäsche hielte. Ich fürchte Wasserschlachten im Bett. Er spricht davon, noch zur Mikrowelle zu müssen und kommt zurück mit einem angenehm warmen Plastikteil, das er mir wie eine altmodische weite Badekappe auf den Kopf stülpt. Darin eine geheimnisvolle Flüssigkeit, die er von außen in meine Kopfhaut massiert– ein tolles Gefühl von Luxus im Unterschied zu den raschen Handgriffen sonst. Danach Kämmen und angenehmer Duft, ich fühle mich wie neu. Erfahre, dass die Haube aus der Covid-Zeit stammt und für die Schwerkranken gedacht war, die lange beatmet wurden.

Freundlichkeit

Allein im „Isolierzimmer“ wegen Covid kommt vermummtes Personal mir nur für notwendige Aktionen nahe. Wie Sonnenstrahlen wärmt da das Lächeln derjenigen, die im Türrahmen stoppen und nach meinen Essenswünschen fragen. Es kostet nichts. Und ich freue mich über ein Brötchen, das aufgeschnitten ist, und wenn mir gelingt, den Joghurt allein zu öffnen. Nicht zu vergessen der aus dem Irak stammende Pfleger und seine geduldige Unterstützung am Waschbecken – als hätten wir alle Zeit der Welt. Die Menschen vom „Fahrdienst“, die mich zum MRT schieben und daneben in den Wartezonen der Gänge diejenigen trösten, die noch abzuholen sind.

Spiegel-Therapie

Ich lerne derzeit eine Vielzahl von Behandlungsmethoden in der Reha kennen. Dazu die Herausforderungen im Alltag. Verblüffend ist die Spiegel-Therapie – die ich dank Weihnachtsgeschenks inzwischen auch zuhause anwenden kann. Ein Zaubertrick: Der gelähmte Arm ist nicht zu sehen, der gesunde Arm bewegt sich und wird durch die Spiegelung als betroffener Arm wahrgenommen. Das soll bestimmte Hirnregionen aktivieren und Einfluss auf die Bewegungsprogrammierung haben.

Spannend. Über den ersten Tag des neuen Jahres hinaus. CB

Schlaganfall – anderes Glück im Advent (Folge 1)

Es bedarf doch ein wenig Training, mit nur einer Hand das Smartphone zu bedienen und zu halten. Wenn der linke Arm sich zwar zum Himmel streckt, die Hand aber herunterbaumelt. Der fehlt fast jede Kraft zuzugreifen, nicht zu reden von dem Varianten-Reichtum der Bewegungen meiner fünf Finger, an die ich bis zum 2.Dezember nie einen Gedanken, geschweige denn ein Gefühl von Dankbarkeit verschwendet habe.

Hier mein Narrativ des Ereignisses an diesem Samstagmorgen: Nach dem Einkaufen wollte ich das Fleisch einer Wildschweinkeule zuschneiden für ein italienisches Ragout. Doch der linke Arm streikte, die Hand griff daneben beim Versuch eine Schublade zu öffnen. Vor einigen Wochen hatte ich irgendwo gelesen, dass es verschiedene Symptome eines Schlaganfalls gibt. Nicht nur Sprachstörungen, ein schiefer Mund – das hatte ich bisher gespeichert. Allein zuhause rufe ich die 112 an, der Rettungswagen mit zwei Sanitätern kommt fast gleichzeitig mit meinem Mann und dem Hund, beide fassungslos. Eine rasante Fahrt zur Klinik in die Stroke Unit, wo Ärztin und Schwestern schon warten. CT und Lyse, also die Infusion eines Enzyms, das Blutgerinnsel in den Hirnarterien auflösen kann. Dazu Fragen an mich, die ich schaffe zu beantworten – nur bei einem Zungenbrecher verheddere ich mich.

Was folgt ist die Intensiv-Station. 24 Stunden Liegen, verkabelt: Pulsmesser, Dauer-EKG, Sauerstoff-Unterstützung durch die Nase, Flüssigkeit tropft in mich hinein. Regelmäßig kontrollieren Menschen meine Augenpupillen, prüfen Körper-Reaktionen. Am Bett griffbereit mein Alarmknopf. Eine Vielzahl rhythmischer Geräusche, dazwischen schrille Töne, Telefonklingeln, Rufe, eilige Schritte – im Rückblick rund um die Uhr.

erinnert an Geisterstunde: Lüften auf der Intensivstation

Dreimal in 24 Stunden ist Schichtwechsel – während der Übergabe höre ich neben Tassenklappern durch die offene Tür teilweise die Beschreibungen der zu betreuenden Patientinnen und Patienten. Während der drei Tage erlebe ich, was durch die mündliche „Stille Post“ aus meinem Narrativ wird: die Wildschwein-Keule mutiert zum Rehbraten, mein Mann hat den Rettungswagen gerufen…Keine Sorge- viel schriftlich Fixiertes, Messwerte und Berichte füllen meine Akte.

Fortsetzung folgt. Für heute nur eine Zeitreise zum 24.Dezember:

 Seit dem 11.Dezember zuhause liegen hinter mir drei anstrengende Tage in einer ambulanten neurologischen Reha. Vorherrschend nun das Gefühl, die linke Seite werde zunehmend neugierig wieder mitzumischen angesichts der unterschiedlichen Methoden beginnend mit A wie Arm-Labor. Ich werde Zeit und Geduld brauchen, besser Hilfe schätzen lernen müssen und endlich die Vorteile der Langsamkeit entdecken.

Dankbar bin ich heute schon allen, die mir digital Kraft senden, ob von der spanischen Nordküste, aus Bayern und anderen wichtigen Teilen Deutschlands oder auf dem Weg nach Litauen. Außerdem die in der Nähe, die mich freundschaftlich ermutigen, wenn wir uns begegnen, die während meiner Corona-Tage (nicht schlimm) manches vor der Tür deponierten. Und alle, die uns im Alltag unterstützen, vom Einkaufen und Putzen bis zum Wäsche Falten oder Bügeln.

„Das mache ich doch mit Links“ wird so bald nicht von mir zu hören sein.

Komparsin (2): mitten in der Menge

„In andere Zeiten schlüpfen…“ hatte ich im Juni den Text über meine ersten Erfahrungen als Komparsin vor über einem Jahr überschrieben. In der Stadthalle von Bad Godesberg bin ich ich Teil des Publikums einer abendlichen Lesung. Ingeborg Bachmann, gespielt von Vicky Krieps, stellt ihren ersten Prosa-Band vor. Jetzt ist der Film „Ingeborg Bachmann – eine Reise in die Wüste“ endlich in den Kinos zu sehen. Es geht um die Beziehung der Dichterin zu Max Frisch und wie sie nach deren Scheitern zu einer Wüstenreise aufbricht. Faszinierend für mich, wie bestimmt Regisseurin Margarethe von Trotta leise und mit wenigen Sätzen Darsteller und Kamera-Team dirigiert. Sehenswert!

In diesem September dann der Drehtag für eine Fernsehserie mit dem Arbeitstitel „A Better Place“, eine Koproduktion der ARD mit Sendern in Frankreich und Österreich. Zunächst waren im Rheinland hunderte Komparsen mit Tätowierungen, Narben und/oder Kampfsport-Erfahrung-gesucht worden. Dann eine weitere Anfrage, ob ich wie weit über hundert andere als Demonstrantin dabei sein wolle. Das beschert mir 12 Stunden an der frischen Luft in Leverkusen vor dem „Forum“, das als „Rathaus“ firmiert. Gesichert durch Absperrgitter und Polizeibeamte – sehr echt. Am Rande des Platzes mit Handtüchern, Klamotten, leeren Flaschen und Protestplakaten ausstaffierte Zelte einer „Mahnwache“. Die Requisite verteilt Buttons, Plakate mit Parolen. Per Megafon werden wir instruiert, was wir zu rufen haben. Geballte Empörung gegen ein Resozialisierungs-Projekt, das vom Bürgermeister und einer Wissenschaftlerin initiiert wird. Das örtliche Gefängnis wird geschlossen, die bisher Inhaftierten sollen durch Arbeit, Wohnung, Therapie und Begleitung wieder in die Gesellschaft integriert werden. Dagegen gibt es Einwände nicht nur von Opfern und deren Angehörigen, sondern nach Pannen eben auch von empörten Bürgerinnen und Bürgern. Ein Versuch des Bürgermeisters, am Absperrgitter das Gespräch mit der aufgebrachten Menge zu suchen, scheitert.

Wir Komparsen müssen immer wieder unsere Positionen wechseln- später soll aus uns mithilfe digitaler Verfahren eine riesige Protestkundgebung Tausender werden, die den ganzen Platz ausfüllen. Immer wieder unsere wütenden Rufe, das wilde Schwenken der Plakate – perfekt, dass manche handgemalten Schilder auf Pappe Schreibfehler aufweisen. Stundenlang ist das anstrengend wird langweilig. Spannend bleibt die Unterschiedlichkeit der Menschen neben mir, unsere kurzen Gespräche und die längeren während der Mittagspause mit Catering. Aber ich spüre zunehmend Irritationen, weil mir die wütenden Stimmen zu viel werden und die Menge sich so rasch auf einen lautstarken „Schlachtruf“ einigen kann. Wo sind die Zweifelnden, die Ängstlichen, die Verletzten noch auszumachen in dieser brodelnden, nach vorne gegen die Gitter drängenden Masse?  Warum suchen so viele die Nähe des Mannes, der sich als Anführer der Protestbewegung herausstellt und zu massiver Gewalt aufruft? Er führt einen „Marsch“ Richtung Stadtzentrum an. Es gibt nur wenige Regie-Hinweise – und schon werden diejenigen, die weiter auf Diskussionen über eine Lösung setzen, an den Rand gedrängt und beschimpft. Schließlich bleibe ich mit einer der kleineren Gruppen kopfschüttelnd zurück.

Ende 2024 soll „A Better Place“ im Ersten und in der ARD-Mediathek zu sehen sein. Anders als beim Bachmann-Film konnte ich diesmal nicht in eine andere Zeit und deren Kostüme und Räume schlüpfen. In meiner eigenen Kleidung stecke ich in der Rolle der aufgebrachten Demonstrantin und hätte doch lieber auf der Seite derjenigen gestanden, die sich für ein Gelingen des Projekts einsetzen. Nach diesem Drehtag bleibt die Erkenntnis, wie leicht Aufruhr angezettelt werden kann, wie einfach es ist, mit der Mehrheit zu brüllen und die Fäuste zu recken. Und dass ein Ausscheren einzelner aus der Masse sie verletzenden Beschimpfungen aussetzt. Sich der Menge zu entziehen befreit aber auch und schafft andere Möglichkeiten.

Das wiederum führt mich zurück zu dem mehrfach gedrehten Ende der Lesung Ingeborg Bachmanns bevor wir alle zu applaudieren hatten. Unvergesslich bleiben ihre letzten Worte im Ohr: „Ich sage dir: Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen.“ *)                                                          CB

*) Erzählung „Das dreißigste Jahr“ in der gleichnamigen Taschenbuchsonderausgabe, 12.Auflage, Januar 2020, Piper-Verlag

Rückblicke

Blättere ich in meinen seit 2021 entstandenen Blog-Texten stoppe ich ab und zu. Erst heute habe ich bei einer zufälligen Begegnung von den „Schwarzen Gedanken“ erzählt. An die erinnere ich mich immer wieder, bekam ich doch vor Augen geführt, mit welchen Vorurteilen ich wie wohl fast jeder Mensch unterwegs bin. Ändern kann sich das nur, wenn es gelingt, immer wieder hinter der Milchglas-Scheibe der eigenen Welt-Konstruktion nach der Wirklichkeit zu fahnden.

Schwarze Gedanken

Sommerabend im Vorort auf der Terrasse der Pizzeria. Am Tisch auch unser kenianischer „Patensohn“, ein 19jähriger Kenianer, der vor fünf Jahren nach Deutschland ausreisen durfte. Auch durch die Unterstützung meines Mannes spricht er inzwischen fast perfekt deutsch. Neben und unter dem Tisch „Funny“, der schwarze Mischlingshund mit einem Weimaraner als Vater und der Golden-Retriever-Mutter.

Am Nachbartisch ein „mittelaltes“ Ehepaar, der Mann mustert uns unentwegt. Innerlich bereite ich mich auf einen Wortwechsel vor, in dem es um Rassismus geht und einen ganzen Schwall von Erwiderungen gegen Fremdenfeindlichkeit. Immer mehr vorauseilende Wut macht sich breit. Im wahrsten Sinne des Wortes schlagkräftige Formulierungen suche ich. Nach dem Salat gehe ich ins Restaurant und komme auf dem Rückweg am Tisch der beiden vorbei. Nun dreht sich der Mann auf seinem Stuhl auch noch zu mir und fixiert mich mit seinem Blick: „Was haben Sie für einen hübschen Hund. Ist das ein Mischling? Wir hatten auch einen, der fast genauso aussah. Leider ist er tot.“          CB                 

Der unfassbare Schrecken in einem Satz

1982 konnte ich getarnt als Studentin während des Kriegsrechts nach Polen einreisen. Als Journalistin sollte ich über eine offizielle deutsch-polnische Begegnung in Auschwitz berichten. Der folgende, leicht gekürzte Text entstand als wir am Nachmittag zu zweit oder dritt mit KZ-Überlebenden über das Gelände des Stammlagers und des Vernichtungslagers Birkenau gegangen waren.

„Bekannter Schrecken. Die Frau neben mir hat überlebt, spricht zum ersten Mal seit der Befreiung wieder deutsch, will Sprachrohr für die Toten sein. Kein Vorwurf in der Stimme. Sie teilt Wohnung und Essen mit uns; erinnert sich an die eine freundliche Aufseherin, die ihr ein Stück Brot zusteckte. Als wir aus einer der Baracken auf dem riesigen Gelände des Vernichtungslagers Birkenau kommen, atmet sie tief durch und sagt: „Hier war nur Dreck, kein Gras. Hier haben die Vögel nicht gesungen.“

Warum nur blitzt dieses Bild auch heute noch auf – wenn ich Fernsehnachrichten über Flüchtlingslager sehe? Wenn jemand im Kleider-Container an der Ecke wühlt oder vor dem Tisch der „Tafel“ ansteht?  CB                                                                          

Bücher von Heinrich Steinfest: Reisen in andere Leben und zurück

Wie und wo ich diesen Sommer verbracht habe? Den Wombat Toby in Australien habe ich kennengelernt, war auf dem Dach der Elbphilharmonie und habe mir in einer Wiener Villa Gedanken über ein Bild gemacht, auf dem neben einer Frau ein Hut wie von Joseph Beuys und ein kleiner Andy Warhol zu erkennen sind. Und weiß es sich anfühlt mit einem Tumor im Kopf unterwegs zu sein. Spätestens jetzt wird hoffentlich klar, dass ich diesen Sommer -bis auf zwei Kurz-Urlaube in der Eifel und in Weilburg an der Lahn- vor allem lesend zuhause und draußen im Garten verbracht habe. Es geht hier um das neu erschienene Buch „Gemälde eines Mordes – Frau Wolf und Cheng ermitteln“ von Heinrich Steinfest. Auf der ersten Seite betont der Autor: “…die ganze Geschichte ist frei erfunden und Ähnlichkeiten mit real lebenden Figuren und vor allem real existierenden Staaten und real ablaufenden Schweinereien ergeben sich daraus, dass diese Geschichte in einem Paralleluniversum spielt.“

Meinen ersten Krimi von ihm entdeckte ich im öffentlichen „Bücherschrank“ des Vororts. „Ein dickes Fell -Chengs dritter Fall“ wurde laut Hinweis des Autors inspiriert vom Umstand, dass die genaue Rezeptur des Duftwassers 4711 bis heute geheim gehalten werde. Wobei die Erklärung dafür „vom Autor frei erfunden worden ist“. Steinfels ist laut seinem Verlag Piper „erklärter Nesthocker“ und preisgekrönt. Wikipedia zufolge wurde er 1961 im australischen Albany geboren, wuchs aber in Wien auf. Demnach ist er auch passionierter Läufer und bildender Künstler, der beim Schreiben gerne in einem Heft herumkritzelt. Geradezu meditativ sei das, sagte er voriges Jahr und erwähnte auch, dass er jetzt nach langer Zeit in Stuttgart überwiegend im südlichen Odenwald wohne und als „Tagschreiber“ einen ordentlich aufgeräumten Tisch benötige.

„Ich bin ein schlechter Tänzer und bin einmal gesegelt und gekentert. Aber das ist eine schriftstellerische Qualität zu imaginieren und sich einzufühlen…Es gibt nichts, worüber man nicht schreiben kann.“ (Heinrich Steinfest im Interview mit „Kulturfalter Halle“)

Das mit der Ordnung kann ich gut nachvollziehen angesichts der Stimmenvielfalt der Figuren, die ihm, wie er selbst sagt, die Möglichkeit bieten, „verschiedene Gedankengänge durchzuspinnen, die auch nicht meine eigenen sein müssen“. Diese Gestalten entsprechen keinen Klischees– wer hätte lesend jemals einen Detektiv getroffen, der zwar Cheng heißt und chinesische Wurzeln hat, aber in Wien geboren wurde und beim ersten Fall einen Arm in einer Gletscherspalte verliert. Im nun erschienenen „Gemälde eines Mordes“ haben er und Frau Wolf, seine frühere Mitarbeiterin, längst Rollen und Büroräume getauscht. Cheng ist nun der Sekretär. Sie haben den Auftrag angenommen, einen in Australien verschollenen Zoologen zu finden, stoßen aber auf die Spur sonderbarer Lottogewinner und des „Fälschers“, der ein weltweit agierender Auftragsmörder sein könnte.

„Es bestehen Parallelen zwischen den Welten möchte man meinen, aufgrund einer gewissen Zwangsläufigkeit des Schreckens wie des Komischen“, schreibt Steinfest zum Auftakt des neuen Buchs. Was beim Lesen nicht nur Einblicke in andere Leben ermöglicht, sondern auch aus dem Fundus der eigenen Existenz vermeintliche Fakten, Fantasien und Furcht spielerisch in Frage stellen kann. Und das alles links und rechts der Krimi-Struktur. CB

Die Bücher von Heinrich Steinfest sind alle im Verlag Piper erschienen.

„Der Chauffeur“ mit dem Namen Paul Klee richtet nach einem Unfall sein „Hotel zur kleinen Nacht“ ein, ruhig soll sein Leben wieder sein. Doch nicht nur die Landung einer Sputnik-Kapsel mitsamt Hündin Laika, wirbelt alles durcheinander, eine böse Nachbarin trachtet ihm nach dem Leben. Auch da hat der „Nesthocker“ Steinfest den Blick wieder sehr weit schweifen lassen.

Denk-mal: ein lokales Plädoyer für Demokratie

Ein Regentag Ende August im Kölner Stadtteil Riehl mitten in der Naumann-Siedlung. Ende der 1920er Jahre errichtet mit Mietwohnungen für Familien von Ford-Mitarbeitern wurden die Gebäude bis 2020 restauriert. An den maßgeblichen und doch lange vergessenen jüdischen Architekten Manfred Manuel Faber, der 1944 gleich nach seiner Ankunft in Auschwitz ermordet wurde, erinnert eine Gedenktafel. Doch das war der Nachbarschaftsinitiative, die so viel über Faber in Erfahrung gebracht hatte, und Bezirksbürgermeisterin Dr. Diana Siebert nicht genug. Die ehrenamtlichen Mitglieder der zuständige Bezirksvertretung Nippes beschlossen einstimmig, den zentralen Platz umzugestalten und ein Denkmal für Faber zu errichten. 50.000 Euro wurden aufgebracht, ein Wettbewerb ausgeschrieben. Siebert spricht von einem künstlerisch wie gestalterisch sensiblen Auftrag, der an den Künstler und Bildhauer David Semper ging.

Zur Enthüllung des Denkmals am 25.8.2023 versammelt sich eine „bunte“ Mischung von Menschen, unter denen jemand wie Manfred Manuel Faber als „Zeitreisender“ nicht aufgefallen wäre. Über Jahrzehnte schien seine Existenz wie ausgelöscht, es gibt nur ein Foto, das ihn zeigen soll. Mit grauem Hut. Auf der Bodenplatte des Denkmals finden sich ein Zitat aus seiner „Flugschrift“ nach dem 1.Weltkrieg und eine gezeichnete „Bauflucht“ der Siedlung. Auf der steinernen Bank liegt quer die „Wartende Säule“, die auch ein zufällig während der Arbeit abgelegter überdimensionaler Stift sein könnte. Wie der Künstler David Semper erläutert, steht diese Zufälligkeit für ihn im Kontrast zur Endgültigkeit der Ermordung Fabers.  Damit bleibe die „Wartende Säule“ und den Menschen heute nichts anderes als weiter zu zeichnen, zu schreiben… Und sich zu informieren mit Hilfe eines QR-Codes, der weiterleitet an das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln.

Nicht nur der QR-Code, sondern auch die Appelle während der Feier zogen Linien vom Gedenken zur Gegenwart. „Die Nazis haben ihn erst zum Juden gemacht“, griff Rafi Rothenberg von der Jüdischen Gemeinde ein Zitat Ralph Giordanos auf. Faber habe sich als Teil der deutschen Gesellschaft gesehen wie auch die damals so bezeichneten Zigeuner, die Zwangsarbeiter und Widerstandskämpfer. Sie seien alle von einer demokratisch gewählten deutschen Regierung umgebracht worden. Seine Mahnung: Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit, sondern müsse jeden Tag neu erstritten werden. Birte Klarzyk vom NS-Dokumentationszentrum verwies darauf, dass auch in einzelnen Viertel die dort lebenden Menschen Impulse zur Erinnerung vorfinden sollten. Dazu passte, dass die angereisten Verwandten Fabers vor der Denkmal-Enthüllung die Märchensiedlung in Holweide/Dellbrück und damit eine andere Facette von Fabers Schaffens in Köln kennenlernen konnten. Ein Spaziergang über Kopfsteinpflaster führte sie vorbei an Reihenhäusern aus den 1920er Jahren im Stil der englischen Gartensiedlungen. Seit über einem Jahr erinnert eine Stele am „Plätzchen“ im Rotkäppchenweg an Faber. Außerdem gibt es inzwischen sechs Tafeln in Vorgärten, die über die Geschichte der Siedlung und ihres über Jahrzehnte vergessenen Architekten informieren. Fabers in Israel lebender Verwandter Gidon Lev zeigte sich berührt. Für Faber existiere kein Grabstein, doch sehe man in der Siedlung, wie sehr seine Arbeit bis heute geschätzt werde.

Während der Feier in der Naumann-Siedlung brandete an einer Stelle von Levs Rede besonders viel Beifall auf. Jeden Samstag beteilige er sich in Tel Aviv an den Demonstrationen gegen die Justizreform in Israel. Demokratie könne zerbrechlich sein und müsse behütet werden. CB

Das Denkmal für Faber verbindet Gidon Lev und den Künstler David Semper

Mehr über Faber und die Märchensiedlung:

Der Mann mit dem Hut und der Rotkäppchenweg

Blick zurück nach vorn: Sybil Gräfin Schönfeldt – klug, humorvoll und gegen Zwänge

In der vergangenen Woche wurde viel über  e i n e  Partei hierzulande berichtet, der es nicht gelungen war, bei ihrer mehrtägigen Veranstaltung alle Kandidat*innen für die Europawahl zu nominieren. Für mich passt da das auf dem Schreibtisch entdeckte Material für diesen Blog:

„Zwangsweise fröhlich sein“ war mein Text überschrieben, der sich 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem 1975 erschienenen Jugendbuch „Sonderappell“ von Sybil Gräfin Schönfeldt befasste. Darin schildert sie, wie sie mit 17 nach dem Abitur als „Arbeitsmaid“ nach Oberschlesien kommt und schließlich vor den Russen fliehen muss. Der Drill mit der Trillerpfeife, Schulungsabende, gegenseitige Bespitzelung, Furcht vor Beurteilungen, die das angestrebte Studium verhindern konnten. Gräfin Schönfeldt, die mit dem Buch als eine von wenigen den Frauen-Alltag in der NS-Diktatur beschrieben hat, geht vom „Missbrauch“ ganzer Jahrgänge aus. Doch viele scheinen die schmerzlichen Erinnerungen vergraben zu haben. Alles nicht so schlimm wie das, was die gleichaltrigen Männer an der Front erwartete. Nach der Lektüre von „Sonderappell“ schrieb aber eine der damaligen „Arbeitsmaiden“: „Die menschenverachtende Art hat mich bis auf den heutigen Tag allergisch gemacht gegen Leute mit Machtkomplexen. Dieses Fertigmachen am Tage und das zwangsweise Fröhlich-sein-müssen am Abend mit Volksliedern und Volkstänzen passt zu dem autoritären Gehabe.“

Am 14.Dezember letzten Jahres ist die Journalistin, Autorin und Übersetzerin Sybil Gräfin Schönfeldt mit 95 Jahren in Hamburg gestorben. Ihr bürgerlicher Name lautete nach ihrer Heirat 1957 mit einem Hamburger Kaufmann Schleppegrell, doch da hatte sie bereits promoviert und schrieb für große Magazine. Ihre eigene Mutter war wenige Wochen nach ihrer Geburt gestorben, sie selbst bekam zwei Söhnen und arbeitete freiberuflich. Dazu das Haus mit vielen Gästen.

Sybil Gräfin Schönfeldt befasste sich mit Kinder- und Jugendliteratur, schrieb die erste in Deutsch verfasste Biografie über Astrid Lindgren, übersetzte Charles Dickens und Lewis Carroll. Für „Knaurs großes Baby-Buch“ volontierte sie in einer Geburtsklinik, für Rezepte und Kochbücher nutzte sie eine Firmen-Versuchsküche.  Immer wieder schimmert neben allen Sach-Informationen ihre Lebensfreude durch. Klein und fein ihr „Kochbuch für die kleine alte Frau“, bei Piper als Taschenbuch neu aufgelegt Es gibt auch ihr „Kochbuch für den großen alten Mann“.  1997 entstanden „Die Jahre, die uns bleiben – Gedanken einer Alten über das Alter“. Klar, knapp, unsentimental.

Von der Lebens- und Liebesgeschichte mit ihrem 2008 verstorbenen Mann handelt das letzte Buch, das Sybil Gräfin Schönfeld im Dezember kurz vor ihrem Tod fertigstellte. In „Er und ich“ rekonstruiert sie auch, wie er, der jüdische Vorfahren hatte, den 2.Weltkrieg überleben konnte. Fast scheint es, als habe sie mit diesen Erinnerungen einen Schlusspunkt setzen wollen. Denn weitergearbeitet hatte sie auch noch im hohen Alter, überzeugt davon, „dass jeder Mensch seine eigene Welt im Kopf trägt und gerade darum glücklich sein kann“. 

Bleibt zu hoffen, dass die posthume Veröffentlichung dieses persönlichen Buches von Sybil Gräfin Schönfeldt viel Aufmerksamkeit findet. Verdienen tun es alle Erinnerungen und Geschichten aus dem 20.Jahrhundert, um so manche Wiederholung zu vermeiden.  CB