Über kindliche Kraft und die Sehnsucht nach Glamour und Frieden

Als ehemalige Nachrichtenredakteurin scheitere ich in diesen Tagen an e i n e m Blog-Text. Zu rasch wechseln Themen und Perspektiven allein schon wegen des Plurals der Kriege. Dazu die Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis, die „aufflammt“. Nein, es handelt sich nicht um ein Naturereignis wie ein Blitz oder das Wetterphänomen „El Nino“. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist nicht „ausgebrochen“, sondern der Einmarsch über die Grenze war akribisch vorbereitet. Auf der Rückfahrt vom Texel-Urlaub sahen wir eine niederländische Panzer-Kolonne, die über eine Autobahn-Brücke rollt  –  blitzartig verdrängten Fragen nach dem Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine die Bilder von Meer, weitem Strand und blauem Himmel.

„Ferien vom Krieg“ – darüber hatte ich vor Jahrzehnten geschrieben. So konnten in der Eifel Kinder aus Nordirland in Gastfamilien ein paar Wochen verbringen, als in ihrer Heimat noch Mauern Stadtteile voneinander trennten und in fast jeder katholischen und protestantischen Familie Opfer von Anschlägen zu betrauern waren. Um Ferien vom Krieg bemühte sich auch ein eher kleiner Verein in und nach den Jahren des gewaltsamen Auseinanderbrechens Jugoslawiens. Kinder der verfeindeten Volksgruppen lernten sich vorsichtig tastend und spielerisch kennen. Sie waren untergebracht zum Beispiel in kroatischen Pensionen am Meer, denen damals die Touristen fehlten. Ich erinnere mich auch an die AWO in Düsseldorf, in deren Räumen sich jeden Sonntag bosnische Flüchtlingsfrauen treffen konnten, während im Backofen der Lehrküche Kaffeebohnen rösteten. Betreut von Therapeutinnen malten die Kinder in bunten Farben und schwarz oder grau, was sie erlebt hatten. Vor einigen Tagen stieß ich bei „arte“ auf eine Reportage über ein Netzwerk französischer Vereine, das ukrainische Flüchtlingskinder in Gastfamilien vermittelt. Die meisten werden wegen ihres nur vorübergehenden Schutzstatus nach einiger Zeit wieder gehen müssen. Die Dokumentation zeigt beispielhaft, wie schwierig die Situation für die ukrainischen Kinder, aber auch die Gastfamilien ist.

Bei der Verleihung des Karlspreises an das ukrainische Volk und dessen Präsident Selenskyj in Aachen war mehrmals die Rede von den Kindern und Enkeln, denen ein Leben in Freiheit und Frieden ermöglicht werden müsse.  

Was auffällt bei den hier lebenden Flüchtlingen aus der Ukraine wie aus anderen Ländern: Bei allen Einschränkungen und Ängsten eint sie die Sehnsucht nach ein bisschen Schönheit und Glamour. Die knallrot geschminkten Lippen der jungen Frau erzählen davon, eine mit Blumen bestickte Bluse oder eine Tüte Süßigkeiten, die geteilt wird. Ein Messing-Kerzenständer, ein paar Kristallgläser, ein ausgemusterter Kinderroller oder ein riesiges Plüschtier in pink und hellblau werden auf einem der Nachbarschafts-Flohmärkte für ein paar Münzen gekauft und mit einem Lächeln vorsichtig weggetragen.

Die Sehnsucht nach Glamour und Freiheit drückt nicht nur der ESC aus. Sie findet sich auch in einem Spielfilm wieder, der ab den 1990er Jahren im Gazastreifen spielt. Wer nicht gleich wegklickt  wird überrascht und verzaubert. Die wahre Geschichte:  Schon als Kind will Mohammed Sänger werden. Er, seine Schwester und Freunde versuchen listig und mit großer Willenskraft gegen alle Widerstände an Geld für Instrumente zu kommen, verkaufen Fisch am Strand, werden von einem Schmuggler betrogen. Der Tunnel nach Ägypten ist ein Szenenbild für den schwierigen Alltag im jahrzehntelangen Konflikt mit Israel. Dagegen setzt der Film die Kraft der Kinder und ihrer Familien. Mohammed bringt es als Sänger auf Hochzeiten nur zu lokalem Ruhm, unterstützt von Schwester Nour, die schwer erkrankt. Später muss sich Mohammed als Student und Taxifahrer durchschlagen. Ermutigt durch eine Freundin schafft er es trotz aller Schwierigkeiten in ein Vorab-Casting für die zweite Staffel der panarabischen Fernseh-Show „Arab Idol“ – und steht dann mit 22 Jahren im Finale. Da nutzt der Film die Originalaufnahmen von 2013, als alle im Gazastreifen mitfiebern für „ihren“, den einzigen Palästinenser im Finale. Eine wahre Geschichte über die Kraft der Musik und eines Sängers, die völlig andere Bilder und Emotionen der Menschen im Gazastreifen hinterlassen als die aktuellen Nachrichten.    CB

Sehenswert und aufzufinden in der arte-Mediathek:
„Ein Lied für Nour“ – Spielfilm von Hany Abu-Assad, nur noch bis 6.6. abrufbar
„RE: Zurück in die Ukraine? – Was wird aus den minderjährigen Flüchtlingen?“ 30 Min. Reportage

Ein Film und ein Buch…

…sind diesmal Thema. Erfundene Geschichten in Wochen, in denen die Schrecken der Welt die Nachrichten dominieren. Und eingestreute Wörter wie „offenbar“, „gewiss“ und „tatsächlich“ die Zweifel übertünchen sollen an der Sorgfalt, der Tiefe und der Zeit für umfassende Recherchen.

Dagegen setzte ich diesmal einen Ausflug in die Welt des früheren Hollywoods und die Bergwelt.

Der Film „The Ordinaries“

Allen, die bei Produktionen aus Deutschland erst mal die Nase rümpfen – zu viel Gerede, zu wenig überraschende Szenen, Längen – werden überrascht sein. Die Abschlussarbeit an der Filmhochschule Babelsberg von Regisseurin Sophie Linnenbaum, sprengt nicht nur mit dem englischen Titel solche oft eng gesetzten Grenzen.  Alles spielt sich ab im Milieu der Hollywood-Produktionen ohne eindeutig festgelegt zu sein auf eine der Epochen der 1930er- bis 1950er-Jahre. (Filmfans werden eine Menge Anspielungen entdecken.)

Diese Welt ist streng unterteilt in die wenigen Haupt- und die vielen Nebenfiguren, die jeden Tag ihre kasernenartigen Hochhauswohnungen verlassen. Busse kutschieren sie auf das Studio-Gelände, wo sie den Lautsprecher-Durchsagen gehorchen. Die junge Paula, deren Mutter auch zu diesen Figuren im Hintergrund gehört, will Hauptfigur wie ihr angeblich verschwundener Vater werden. Sie kann sich als Klassenbeste in Zeitlupe bewegen, panisch losschreien, in Tränen ausbrechen, scheitert aber an emotionaler Musik. Eine ihrer Freundinnen lebt in einer schlossartigen Villa und gehört zu einer Familie von Hauptfiguren, die hinreißende Musical-Szenen mit Tanz und Gesang mal eben um den Esstisch hinlegen. Ihre Suche führt Paula auch weg vom Filmset und in Archive. Sie entdeckt weitere Randgestalten wie die Doubles, die Schwarzweißen, die Asynchronen und diejenigen, die beim Filmschnitt ausgemustert wurden.

Der auch als „kleines Fernsehspiel“ vom ZDF geförderte Film ist eine Parabel, deren „erzieherische Wirkung“ eher beiläufig daherkommt. Und nachdenklich macht über die Haupt- und Nebenfiguren und die unsichtbar Gewordenen in der Gegenwart.

Der Roman „Ein ganzes Leben“

In den Bergen ist alles kompliziert geworden. Der Klimawandel sorgt dafür, dass immer mehr Kunstschnee produziert werden muss. Die dafür geschaffenen Wasser-Reservoirs sind im Sommer eingezäunt und müssen umwandert werden auf kahlen Flächen, die keine Ähnlichkeit mehr mit bunten Alpenwiesen haben.

Das 2014 erschienene und jetzt wieder gelesene Buch „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler ist berührend in seiner Schlichtheit. Auf 185 Seiten schildert er das harte Leben von Hans Egger, der es als Adoptivkind eines Bauern zum Hilfsknecht bringt und sich später einem Trupp anschließt, der Elektrizität und Bergbahnen in das Tal bringt. Momente des Glücks sind selten, die einzige Liebe seines Lebens bleibt nicht ewig. Aber er bleibt in der Gegend und beobachtet den Wandel.

Das Buch war für mich kein nostalgischer Ausflug in gute alte Zeiten, keine Flucht vor den Auswüchsen des Alpen-Tourismus, sondern das richtige um einmal innezuhalten. Und ein einziges Menschenleben in den Blick zu nehmen, das im Film „The Ordinaries“ sicher dem Cut zum Opfer gefallen wäre.

Hinweis: „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler ist als Taschenbuch im Goldmann-Verlag erschienen.

Von wegen nur ein Hund

In den Tiefen des Internets existiert  noch das Video mit schwarzen und blonden Welpen in einem Garten, „geboren am 5.3.2011“ . Zwei Monate später lernten wir sie in Viersen kennen und nahmen eine gleich mit.  Ihr Name „Funny“ ist ihr Lebensmotto, spontan verkündet von meinem Mann, als es um den Eintrag in den Hunde-Ausweis ging. Nun ist sie 12 Jahre alt, wie immer wartet der Futternapf, denn die beiden streifen noch kilometerweit durch den Wald und entlang der Felder am Stadtrand.

Welpe und Junghund 2011

Wünschen lohnt sich

Als Kind hatte ich keinen Teddy, sondern den Steiff-Plüschhund „Floppy“ und sammelte Hundepostkarten. Wenn jetzt Kinder im Bus Funny treffen und streicheln, frage ich, ob sie auch gerne einen Hund hätten. Sie listen die Gründe dagegen auf – von Zeit- und Platzmangel bis zu Tierarzt-Kosten, Urlauben und Allergie. Was natürlich alles zu bedenken ist. Trotzdem rate ich: „Haltet fest an dem Wunsch nach einem Hund. Seht mich an. Über 50 musste ich alt werden, bis es klappte und Funny in unser Leben kam.“

Einfach öfter schütteln und gähnen

Neulich ein Vortrag über Stress und belastende Arbeitsbedingungen im Journalismus durch die dauernde Konfrontation mit Gewalt und Katastrophen. Die Referentin verwies darauf, dass Hunde sich heftig schütteln, um Spannungen abzubauen oder ungeniert gähnen. Ausschütteln kenne ich nur nach Gymnastik- oder Atemübungen. Da sollte ich mir ein Beispiel am Hund nehmen. Und mich nicht länger ärgern, dass Funnys schwarze kurze Haare sich selbst in zwei Meter Höhe im Buchregal finden.

Funny first

Funny braucht kein Narrativ wie das derzeit beliebte vom Säbelzahntiger, um sich auf alles Fressbare zu stürzen als gäbe es kein Morgen. Weggeworfene Brötchen, das Stück Kuchen auf einem Trafo-Kasten, die umgekippte Tüte Trockenfutter. Zuhause werden der gefüllte Napf oder der Knochen verteidigt. Da zählt nur der Augenblick, auch wenn sie längst tägliche Routinen und Rituale kennt wie das Stück altes Brot zum Frühstück. Funny first- das ist für sie klar, wo ich oft Gedankenknäuel entwirren muss.

Freundlichkeit zahlt sich aus

Kaum ein Spaziergang morgens oder abends, ohne dass wir jemand aus der Nachbarschaft treffen. Da macht Funny gerne einen Knicks, lässt sich begrüßen. Ab und zu staubt sie Leckerchen ab oder wird gestreichelt. Dafür nimmt sie auch missgünstige Blicke anderer Hunde oder Katzen in Kauf. Für mich fallen Gespräche ab. Es gab für uns Menschen aber auch schon das Wild-Angebot eines Jagdpächters oder vom Nachbarn Stauden-Ableger für den Garten.

Kläffer einfach ignorieren

Kleine Hunde haben öfter als große die Angewohnheit, mehr oder weniger hysterisch zu kläffen, wenn sie Funny sehen. Die würdigt sie keines Blickes oder gar Bellens, sondern schreitet gelassen weiter. An Gründe wie dem, dass die kleinen Kläffer auf den Arm genommen werden und sich dann für den größten Hund der Welt halten, verschwendet Funny keinen Gedanken. Auch mich lassen pöbelnde Menschen im Gedränge oder in Schlangen immer öfter kalt.

Niemand geht verloren

Mit den Eltern, einem Weimaraner und einer Golden Retrieverin ist Funny genetisch disponiert für die Jagd, bevorzugt aber die Menschensuche – das sogenannte Mantrailing mit meinem Mann am anderen Ende der langen Leine. Ein kurzes Schnüffeln an einer getragenen Socke und sie stürmt los, die vermisste Person aufzustöbern. Ob hinter Müllcontainern, im Buschwerk, in einem Tierkostüm oder in der Einkaufspassage – Funny findet alle, kassiert die Belohnung und lässt sich loben. Übrigens hat sie ein- oder zwei Mal auch eine Hundefreundin gefunden.

Such-Hund bei der Arbeit

Ohne Vorurteile – der richtige Riecher

Funny hat ihr eigenes hündisches System Menschen zu begegnen. Schrille Bemerkungen und abwehrende Gesten gegen die eigene Spezies lassen sie auf Distanz gehen. Anderen begegnet sie freundlich und neugierig: Menschen, die ihre Habe in Taschen mit sich führen, die auf einer Bank mit einem Bier auf ein anderes Leben zu warten scheinen oder solche, die mit ihren Worten durcheinandergeraten. Die unvoreingenommene Nähe und die Berührungen tun beiden gut.

Tiere trösten

Seit Funny hier lebt, fällt uns im Fernsehen auf, wenn in Trümmern ukrainischer Straßen Hunde herumstreunen oder Flüchtende eine Katze auf dem Schoß halten. Zu einer  Demonstration gegen den Überfall auf die Ukraine hatte ich im Mai Funny mitgenommen, die viele Blicke auf sich zog. Ich erfuhr Flucht-Geschichten über zurückgelassene Verwandte und Haustiere. Funny stand ruhig in der Menge und ließ sich streicheln. Ein junger blinder Mann fragte mich auf Englisch über den Hund aus, den er währenddessen abtastete.

Schwäche zeigen dürfen

Als junger Hund pflegte Funny neben uns auf dem Balkon das Silvester-Feuerwerk und die Knallerei zu beobachten. Mit den Jahren ist sie ängstlich geworden, drückt sich an Mitternacht im dunklen Zimmer in den kleinsten Spalt und zittert. Zu aufgeregt für Leckerchen. Streicheln und Nähe helfen. Vor Elefanten oder Kamelen, denen sie auf dem Gelände um einen Zirkus begegnet, fürchtet sie sich nicht. Aber Fliegen oder brummende Bienen nerven sie, und wir sind zu mehr oder erfolgreichen Kammerjägern für sie geworden.

Eine Bushaltestelle, das Erdbeben und drei Rosen

Vorbemerkung

Wer mich kennt, weiß, dass ich Geschichten über Begegnungen liebe, die nicht geplant waren und die Folgen haben. Diesmal stammt der Text von einem türkischen Autor, der seine Heimat vor einigen Jahren verlassen musste, nun hier wohnt und Deutschland erlebt: CB

Vor einigen Wochen hatte ich zwei Freunde nach Hause eingeladen, die wie ich die Türkei verlassen mussten und nach Deutschland kamen. Die beiden sind jünger als 40, der eine lebte in derselben Stadt wie ich, der andere in einem rund 20 Kilometer entfernten Ort. Ich selbst bin 50. Während des Abendessens nutzten wir die gemeinsame Zeit, um über alle möglichen Themen zu diskutieren.

Dann brachen wir auf, der eine musste nur zur Bushaltestelle, den anderen wollte ich ein paar Straßen weiter nach Hause fahren.  Zusammen warteten wir an der Haltestelle, weil der Bus Verspätung hatte.  Es war kalt und regnete – eben ein deutscher Winterabend.  Als der Bus endlich kam, wollte hinter dem Freund auch eine wartende Frau einsteigen, die ihm aufgeregt Fragen stellte. Er verwies sie an mich und bat mich, ihr zu helfen. Sie sah erschöpft und nass aus, war wohl über 70 Jahre alt.

Ich bekam heraus, dass die Frau hier umsteigen wollte, um nach Hause in eine rund 15 Kilometer entfernte Stadt zu kommen. Die Ortsangabe auf dem Bus-Schild aber war eine andere. Sie hatte an der Haltestelle auf der falschen Straßenseite gestanden. Ich sagte ihr, diesen Abend werde kein Bus mehr in Richtung ihrer Stadt fahren und bot an, sie in meinem Auto nach Hause zu bringen. Sie wirkte verunsichert. Was mich nicht überraschte, weil sie mich ja nicht kannte. Aber in unserer Kultur wird gestrandeten Menschen immer geholfen – auch wenn der Strand eine Straße ist. Ich erzählte ihr kurz von mir, meiner Familie und versicherte, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Um nicht noch mehr nass zu werden, bat ich sie, auf der Bank in der überdachten Bushaltestelle zu warten, während ich den Freund nach Hause fuhr und in fünf Minuten zurück war. Beim Einsteigen in mein Auto schien es, als wäre ihre anfängliche Nervosität verflogen. Vielleicht hatte sie Bekannte oder ihren Mann angerufen und die Situation geschildert.

Während der Fahrt unterhielten wir uns. Auch darüber, warum wir nach Deutschland kommen mussten. Die Frau war im Bus in eine andere Stadt gefahren, in der ihr Mann im Krankenhaus lag, und wollte nun hier auf der Rückfahrt nach Hause umsteigen. Er hatte eine Krebs-Diagnose erhalten. Die Kinder lebten inzwischen in anderen Städten. Einmal hätten sie und ihr Mann Urlaub in der Türkei gemacht. Wie sie über Bodrum redete, spiegelte für mich die Wärme dieses Ortes wider.

Als wir ihre Wohnung erreichten, konnte sie mir nicht genug für die Fahrt danken. Auch wenn ich ihr sagte, dass es nichts gebe, wofür sie dankbar sein müsse. Ich wusste, dass es Gott war, der uns an diesem Abend zusammengebracht hatte. Wir tauschten noch unsere Telefonnummern aus. Ich lud sie zu uns nach Hause zu einem türkischen Essen ein, wenn es ihrem Mann besser gehe. Auf meiner Heimfahrt klingelte das Handy, ich hielt am Straßenrand an. Es war wieder mein Fahrgast. Sie bedankte sich auch im Namen ihres Mannes noch einmal bei mir.

Ein paar Tage später schrieb ich der Frau eine SMS und erkundigte mich, wie es ihrem Mann gehe. Sie antwortete, der Krankheitsprozess schreite voran, ihre Tochter und ihr Sohn seien gekommen. Wir würden für ihren Mann beten, versicherte ich. Nachdem ich kurz darauf eine weitere Nachricht geschickt hatte, blieb eine Antwort aus, und ich machte mir große Sorgen um ihren schwerkranken Mann. Wir sollten uns leider nie persönlich begegnen. Denn zehn Tage später schrieb sie, er sei am vergangenen Sonntag verstorben. „Glücklicherweise konnte ich ihn in seinen letzten Tagen zu Hause pflegen“.

Diese Nachricht erreichte mich am 6.Februar, dem Tag des Erdbebens in der Türkei und Syrien. Obwohl sie um ihren Mann trauerte, erinnerte sie sich an unsere Begegnung und rief mich an. Ob sie uns helfen könne, fragte sie. Ich dankte ihr für ihr Mitgefühl, das für uns eine besondere Bedeutung hatte. Denn Verwandte meiner Frau waren nach dem ersten großen Beben rund zehn Stunden in dem beschädigten Gebäude eingeschlossen, das ihr Zuhause gewesen war. Aus eigener Kraft und mit der Unterstützung von Nachbarn hatten sie sich befreien können. Inzwischen sind sie in Ankara in Sicherheit.

Am Ende des Telefongesprächs lud die Frau uns zur Bestattung ihres Mannes ein. Für meine Frau und mich das erste christliche Begräbnis. Wir fragten eine deutsche Freundin, wie wir uns verhalten sollten.  Auf dem Friedhof warteten wir, weil zunächst Verwandte und enge Freunde der Frau ihr Beileid aussprachen. Schließlich waren auch wir an der Reihe. Als wir sie umarmten, kamen uns allen die Tränen. Drei weiße Rosen legte meine Frau auf das Grab. Sie könnten ein Symbol der Verbundenheit sein zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen, die sich nahegekommen sind über Grenzen der Fremdheit hinweg. Wir haben wohl auf die Stimme unseres Herzens gehört.

Was da 2023 im Kreis Lippe geschehen ist, erinnert mich jedenfalls an die Worte des berühmten islamischen Dichters und Mystikers Mevlana aus dem 13.Jahrhundert: „Nicht diejenigen, die dieselbe Sprache sprechen, können miteinander auskommen, sondern diejenigen, die dieselben Gefühle teilen.“

Mert Ender Sarpca im Februar 2023

„Maat üch Freud su lang et jeht…“ – Nicht nur an Karneval

Nach der Corona-Pause, in der Masken mit den Bezeichnungen FFP2 und „OP“ allgegenwärtig waren wie Papp-Publikum bei Fernsehsitzungen, ist diese Karnevals-Session eine besondere. Fast überall überschießende Ausgelassenheit, die Sanitäter-Einsätze erfordert und Müll hinterlässt, aber auch von der Freude am Verkleiden und Ausprobieren erzählt.   

Am Karnevals-Freitag eine Beerdigung im Bergischen. Die Trauernde trug rote Schuhe zum Schwarz – darüber hatten sie und ihr Mann einmal gesprochen. Auf ihre Mütze hatte sie drei kleine rote Herzen gestickt – je eins für sich und ihre Söhne. Der kalte Wind verwehte die Tulpenblätter in vielen Farben wie Konfetti vom Urnengrab auf den umliegenden Rasen. Viele waren gekommen sich zu verabschieden.

„Maat üch Freud su lang et jeht, denn dat Levve duurt keen Ewigkeit!“ *) – dieser Ratschlag nicht nur für die Karnevalszeit, wo hier im Rheinland „jeck“ sein offiziell genehmigt ist, geht mir nicht aus dem Kopf seit wir den Freund ein letztes Mal im Hospiz besucht haben. Es war noch Januar und doch dröhnte am Vormittag durch den Gemeinschaftsraum Karnevalsmusik. Darunter auch seit Jahrzehnten vertraute Melodien und Texte wie der kölsche Stammbaum, in dem es von Zugereisten aus aller Herren Länder nur so wimmelt, oder das Lied über die Stadt Köln, die herrlich lachen und auch Rotz und Wasser heulen kann. Wie gesagt, es war noch Januar und mir entfuhr der Satz: „Das ist aber doch noch früh für Karneval“. Eine Frau mit Rollator erwiderte: „Das ist keine Minute zu früh…“ Ich schämte mich, auch noch, als ich später miterlebte, wie Besuch kam und wie herzlich die Begrüßungen waren. Denn wer weiß schon, ob es ein Wiedersehen geben wird. Wenn das Leben schwindet, geht es um den Moment und die kleinen Freuden – wie das dauernd verfügbare Vanille-Eis, das Rauchen einer Zigarette am offenen Fenster, den Schluck Bier, um die Tabletten hinunter zu spülen, die Besuche, Berührungen und den Blick auf Vertrautes wie das mitgebrachte Bild an der Zimmer-Wand. Es gibt keine lange Bank mehr, auf die die Zukunft geschoben werden kann.

In Erinnerung bleibt mir der große Holztisch im Hospiz, um den immer wieder Menschen saßen, miteinander sprachen, eine Kleinigkeit aßen, einen Kaffee bekamen. Es schien, als hätten viele schon Spuren ihres Lebens hinterlassen in der zerfurchten Platte des Tisches. Auch wenn sie schon gegangen waren und andere nun dort saßen.

Spuren der Zeit und der Leben: Detail der Tischplatte im Hospiz

Im Trauergottesdienst am Karnevalsfreitag wurden Stationen dieses einen Lebens nachgezeichnet, auch von den beiden Söhnen, die liebevolle Erinnerungen an ihren Vater mit allen teilten: Seine Neugierde, das Interesse an Menschen unterschiedlicher Kulturen, seine Hilfsbereitschaft, die Freude am gemeinsamen Feiern und Essen. Therapeuten sprechen inzwischen von „transgenerational“, wenn sie im Verhalten Spuren früherer Generationen einer Familie entdecken. Von diesem Abschied bleibt jedenfalls neben der Trauer eben auch die Hoffnung auf viel Lebensfreude. Nicht nur an Karneval.

*) „Macht euch Freude solange es geht, denn das Leben dauert keine Ewigkeit“ – wer so immer seine Büttenreden im Kölner Karneval beendete, ließ sich auf die Schnelle nicht herausfinden. Wird aber nachgeliefert.

Feiern gegen die Dystopie?

Vorbemerkung: Dystopische Texte haben derzeit Konjunktur. Kein Wunder. Angesichts der Umweltschäden in Folge des Klimawandels und des anhaltenden russischen Angriffskrieges in der Ukraine lässt sich eine Zukunft der Katastrophen und Zerstörungen zeichnen. Keine Zeit für die Utopie eines guten Lebens friedfertiger Menschen in schönem Ambiente. Dabei fällt doch gerade die Masken-Pflicht der Corona-Epoche. Deshalb ein leicht aktualisierter Text von mir, sozusagen ein Ausblick auf die kommende Zeit des Karnevals und der zurückkehrenden Freiheiten.

Bereits bei ihrer ersten Kabinetts-Sitzung hatte die Regierung ein Wahlversprechen eingelöst. Sie verfügte, dass Feiern erste Bürgerpflicht sei. Die Verwaltungsbehörden wurden angewiesen, gleich nach Inkrafttreten der entsprechenden Gesetzesbestimmungen ein Kontrollsystem einzuführen und ähnlich der Verkehrssünder-Kartei Strafpunkte zentral zu registrieren.

Die Teilnahme an drei Festen pro Woche musste von da an mit Stempeln in einem passähnlichen Papier quittiert werden. Bei der Auswahl hielt sich die Regierung an ihr Wahlversprechen: „Freie Wahl der Feste“. Die Folge war, dass die sozialen Medien mit ihren Nachbarschafts-Netzwerken überquollen von Hinweisen auf Feiern von Kindergärten, und Tierschutzvereinen, vom Verband der Installateure oder der Initiative für Senioren-Waldbetreuung und vom Berufsverband der Dirigentinnen von Amateurkapellen. Die Bekleidungs-Branche verzeichnete steigende Umsätze, denn wer wollte schon gern im Abendkleid zum Grillfest der Texas-Freunde oder in der Jogginghose zum Cocktailempfang der Philatelisten. Mancher Alleinunterhalter ließ Verstärker und E-Piano gleich im Auto, da er von Termin zu Termin eilen musste. Die Friseurinnen und Friseure waren so gestresst, dass sie als besondere Note für ihre eigenen Feste vereinbarten, dort alle ungekämmt zu erscheinen. Da private Feiern nur ab 40 Gästen als Fest im Sinne der Gesetzesregelung galten, wurden erste Hochzeiten bereits ins Ausland verlegt oder ein kleiner Kreis traf sich heimlich nach Büroschluss.

Bald kam es zu ersten Zwischenfällen, weil etwa Straßenbahn-Personal oder Polizei wegen Übermüdung ein Verkehrschaos verursachten. Kinder nutzten den Unterricht, um einmal ohne die Anleitung eines professionellen Animateurs zu spielen. Proteste wurden laut. Eine Bürgerinitiative wies durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf bestimmte Veranstalter hin. Hinter festlich dekorierten Fassaden boten die – unbemerkt von staatlicher Kontrolle – Raum, sich auszuruhen, zu lesen, ins Gespräch zu kommen. Ähnlich Wünsche äußerten auch immer mehr Menschen in den Meinungsumfragen der Regierung. Die nächste Kabinettsrunde will nun über eine mögliche Lockerung der Gesetzes-Regelungen beraten, ohne erneut die Gefahren von Einsamkeit und Alltagstrott heraufzubeschwören.                                                                                              CB

Geduldsprobe Januar

„Gefühlt minus drei Grad“ meldet die Wetter-App. Der über den gesamten Himmel reichende graue Bezug verhindert, dass der Nachbar endlich die erste Kilowatt-Ernte durch seine gerade installierten Solar-Paneele einfahren kann. Im Haus strecken sich Tulpen aus der Vase, um Farbe in die Tristesse zu bringen. Wieder einmal entpuppt sich der Januar als Herausforderung für alle, denen nur die Erinnerung geblieben ist, an knirschenden, frisch gefallenen Schnee, der in der Sonne vor himmelblauer Kulisse glitzert. Über den die Kufen des Davos-Schlitten den Hügel des Kölner Vororts herunter gleiten.

Doch auch das ist nur eine der Illusionen im Januar. Denn länger als das Weiß hielt sich auch vor Jahrzehnten das Grau des mit Salz und Dreck vermischten Matsches, der nach Frostnächten die Sturz-Neigung der Schulkinder vergrößerte. Nicht zu vergessen die Zusammenstöße bei den Schlitten-Abfahrten. Wer unten lag, hatte den Mund voll Schnee und Steinchen, über sich womöglich die Last des fehl-gesteuerten Erwachsenen. Jahre später dann Fahrstunden, in denen gefrorene Schneeberge am Straßenrand das Einparken nicht gerade erleichterten.

Bis jetzt habe ich mehr oder weniger tapfer durchgehalten und versucht, den Januar positiv zu sehen. Es konnte so nicht weitergehen mit den schwindenden Vorräten an Weihnachtsplätzchen und der Parade von Nikoläusen und anderen Artikeln aus dem Schokoladen-Sortiment. Das Dunkel der Nacht weicht früher dem Grau, der schwarze Hund braucht schon gegen acht Uhr keine LED-Blinker um den Hals. Abends sehen wir an der Haltestelle vereinzelt Menschen, die rot-weiß Gestreiftes, glitzernde Turnschuhe und Federhüte tragen. Der Sitzungskarneval hat begonnen.

Bald ist der Januar nur noch ein umgeschlagenes Kalenderblatt.  Endlich habe ich die Zettel sortiert und abgeheftet, auf denen Koch-Ideen aus den Corona-Jahren notiert sind. Einige wanderten zum Altpapier. Die Birnen-Gorgonzola-Quiche geriet zu matschig. Vier Rezepte für Bananenkuchen sind drei zu viel. Schwarzwurzel, Grün- und Rotkohl sind diesen Winter neu im Repertoire dank des wöchentlichen Bio-Kisten-Abos. Orangen und Apfelsinen liegen in der Obstschale. Nicht zu vergessen eingemachtes Quitten- oder Apfelkompott und im Garten der Rosmarin-Strauch, der frierende Thymianbusch und die kleinen Oregano-Blätter. Sie haben den Januar auch bald überstanden. So grau ist der eigentlich gar nicht gewesen.                                                                                           CB

Schön und klug – über Komplimente via Facebook

Heute früh am Frühstückstisch. Der Gatte liest die Zeitung und regt sich auf, dass der Krieg in der Ukraine mit all seinen Grausamkeiten weitergeht und das Waffenarsenal der Bundeswehr in traurigem Zustand ist. Ich frage mich, ob die bisherige Verteidigungsministerin mit Zapfenstreich verabschiedet werden wird und ob sie sich einen Song wünschen darf.  Also poste ich die Frage auf Facebook. Mit der Einstellung „Freunde“. Da ploppt ein unbekanntes Männergesicht mit einem Namen auf, der mir nichts sagt, bezieht sich auf einen vor Monaten von mir geposteten Kommentar zu einem FB-Eintrag des Bundespräsidenten. Der Unbekannte hat angeblich in den drei Zeilen und dem Foto meine Klugheit und Schönheit erkannt und wünscht sich nach einigen weiteren schmeichelhaften Bemerkungen mit mir in Kontakt zu treten.

Das Foto und ein weiteres beim Anklicken seines Profils erfüllen Frauen-Sehnsüchte: Graumeliert, chic, aber nicht zu förmlich oder sportlich gekleidet. Er ist Pierce Brosnan (69) wie aus dem Gesicht geschnitten, der 2001 immerhin „sexiest Man Alive“ war und jetzt mit Julia Roberts Filme dreht. Und der im wahren Leben nichts auf seine gewichtige Frau kommen lässt. (Quelle: meine Friseurbesuche mit viel Zeit für Fach-Lektüre beim Strähnchen-Trocknen.) Mein Waage-Status tut hier nichts zur Sache.

Männer lassen sich auch einfach googeln

Ein zweites Foto zeigt den FB-Verehrer in einem Männer-Mode-Laden. Auch das trifft offenbar Frauen-Sehnsüchte. Nur ist der eigene Gatte keiner, der starr zwischen den Kleiderstangen verharrt, während das Verkaufspersonal mich als Partnerin fragt, welche Größe er denn habe und für welchen Anlass der Kauf gedacht sei.

Kein Bedarf, auch die journalistische Neugierde hält sich in Grenzen. Auch nicht, warum der Doppelgänger dieses FB-Synonym gewählt hat. Blockiert. Im Kopf den ein oder anderen Schlager als Vorschlag für den Zapfenstreich: „Hello Again“ – besser nicht, „Where have all the flowers gone“ – in der Blasorchester-Version? – „Männer weinen heimlich“ oder „Männer sind Schweine“ – ich weiß nicht. „Time to say Goodbye“.    CB

Philomena Franz – eine Sintiza mit Blütenzweig im Herzen

Neues Jahr, neue Ideen für den Zettelskrom. Zum Beispiel mehr über die tollen Frauen zu schreiben, denen ich begegnen durfte. Wie Philomena Franz, die am 28.Dezember in Rösrath bei Köln im Alter von 100 Jahren gestorben ist.  Sie war 62 als ich sie dort traf:  in ihrem Gesicht spiegelten sich Trauer und Wut, aber es konnte unvermittelt auch ein Lächeln hervorbrechen. Die Auschwitz-Überlebende stellte damals ihre Autobiographie vor: „Zwischen Liebe und Hass – ein Zigeunerleben“. Das Titelbild der ersten Ausgabe zeigte einen Planwagen, der von einem Pferd gezogen wird. Damit wird nur eines der vielen Klischees über eine Minderheit bedient, die heute auch vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vertreten wird. Deren Vorsitzender Rose erklärte, Philomena Franz habe sich nie mit der fehlenden Anerkennung des Unrechts abgefunden. Ihrem Wirken um Versöhnung und Verständigung gehöre unser aller Respekt.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth würdigte Franz als unermüdliche Kämpferin für das Gedenken an die NS-Opfer. Als eine der ersten habe die Sintiza in den 1970er Jahren ihre Stimme erhoben und öffentlich über ihre Erfahrungen in den Konzentrationslagern besprochen. Dass Philomena Franz in den kommenden Jahrzehnten zur Zeitzeugin und Autorin werden sollte, hatte seinen Ursprung in der Diskriminierung ihres ältesten Sohnes in einer Kölner Schule, der als „dreckiger Zigeuner“ beschimpft worden war. Als Gegenmaßnahme und um Verständnis zu wecken verfasste und erzählte sie „Zigeunermärchen“ für Kinder, die 1982 auch als Buch erschienen. 1985 dann ihre Autobiographie. „Ich musste über meine Leiden sprechen. So ist es zu verstehen, dass ich gesagt habe, ich habe dieses Manuskript unter Tränen und auf den Knien geschrieben“.

Das Grauen hatte sich langsam gesteigert für die renommierte Sinti-Musikerfamilie. Der Vater Cellist, die Mutter Sängerin. Philomena erinnert sich, wie sie als siebenjährige Tänzerin und Sängerin auftrat. Es gab Engagements in der Liederhalle Stuttgart, dem Lido in Paris. Doch 1938 musste Philomena die Mädchenoberschule in Stuttgart verlassen wegen ihrer „rassischen“ Zugehörigkeit. Im Jahr danach der „Festsetzungserlass“, statt Auftritten nun Arbeitseinsätze und Deportation. Unter ihrem Mädchennamen Philomena Köhler wird sie 1944 im „Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau“ registriert, dann Ravensbrück. Im Buch schildert sie auch, wer ihr half, wie ihr die Flucht gelingt, sie bei Kriegsende neue Ausweispapiere erhält. „Erst sehr viel später erfahre ich, dass fast meine ganze Familie ins Gas geschickt wurde.“– Nach dem „Nullpunkt“ tritt Philomena als Sängerin amerikanischer Schlager auf – mit ihrem späteren Mann und ihrem Bruder, einem Jazz-Geiger. Die Gruppe spielt für General Eisenhower und General de Gaulle. 1946 wurde die erste Tochter geboren, vier Söhne sollten folgen.

Übrigens:  Ihr Zigeunerwagen „war nicht ein Leiterwagen mit einer Plane. Schon eher ein Wohnwagen“, schreibt Philomena Franz über ihre Kindheit. „Acht Meter lang und 2,50 Meter breit. Damals hatte er schon 2000 Mark gekostet. So viel Geld musste man für ein Haus bezahlen…Im Schrank das schönste Porzellan und Geschirr.“ Vier Pferde zogen den Wagen. Den Winter verbrachte die Familie in Rohrbach, später in einem größeren Haus in Bad Cannstatt. Nach dem Krieg schliefen sie auf Matratzen in einem Ami-Schlitten, in Herbst und Winter bat Philomena Franz bei Fremden darum, eine Nacht in der Küche die Betten aufzuschlagen. Bis ihnen 1954 in Köln eine Polin, deren Mann Deutscher und Kohlenhändler war, im Hof eine Waschküche anbot. Ofen, Sofa, später ein Herd- „Jetzt waren wir natürlich erst einmal Menschen“. 1960 erst erhält Philomena Franz die erste Haftentschädigung. Sie leidet an Angstzuständen und Depressionen und ist doch überzeugt: „Wenn wir hassen, verlieren wir.“ Auch im hohen Alter habe sie noch unermüdlich für Versöhnung und interkulturelles Miteinander gekämpft, meint Bergisch Gladbachs Bürgermeister Stein. Das drückt auch der Titel ihres schmalen Gedichtbandes aus: „Tragen wir einen Blütenzweig im Herzen, so wird sich immer wieder ein Singvogel darauf niederlassen.“

Aktuelle Hinweise auf die Bücher von Philomena Franz finden sich in ihrem Wikipedia-Eintrag

Klischee als Blickfang. Titel des 1985 erschienenen Taschenbuches

Von alten Adressbüchern

Die letzten Tage vor Heiligabend habe ich von den Weihnachtsplänen anderer gehört: vom Besuch mit erstem Enkelkind oder der Patchwork-Geschwister, der betagte Oma, die unbedingt helfen will. Traurigkeit droht trotz Mann, der sich diesmal als Bastler betätigt, und dem bereits bekannten fröhlichen Hund Funny. Hinzu kommt, dass ich die Telefonnummern eines Freundes nicht fand, dessen Vater gerade gestorben ist. In der „Tagesschau“ Bilder der Zerstörung in der Ukraine, Hoffnung auf ein baldiges Ende der Kämpfe lässt sich nur mühsam aufrechterhalten. Drohnen statt Engeln, die vom Frieden singen.

Die Suche nach den Telefonnummern in meinen alten Adressbüchern. Fülle tut sich auf von Namen und Orten, die sich angesammelt haben. Einige Kontakte überdauerten die Zeitläufte (ich liebe dieses Wort), andere waren intensiv, gingen aber verloren, neue Annäherungen sorgen für Entdeckungen. Verlässliche Verbindungen sorgen für Hilfe in Notlagen. Dankbarkeit löst den Rest Traurigkeit ab, wenn ich mir alle diese Menschen zusammen vorstelle, wie wir unterwegs sind oder waren. Wie ihre Verschiedenheit mich bereichert.

Den Flüchtlingen fehlen solche Vertrautheit und die Heimat. Überall aber können neue Verbindungen entstehen. Da beginnen für mich in diesem Jahr die Hoffnungs-Geschichten.  Und wenn ich schon einmal dabei bin, ein Spruch aus Westafrika an die eigene Adresse, wenn 2023 die Kritikerin hervorkommt: „Fehler sind wie Berge. Man steht auf dem Gipfel seiner eigenen und redet über die anderen.“

Ein zerbrechlicher Stern, vor Jahren mitgebracht aus Bethlehem.

EUCH UND IHNEN EIN FROHES WEIHNACHTSFEST UND EIN FRIEDLICHES UND GESUNDES NEUES JAHR!

Christel Boßbach