Über das Suchen und Entdecken von Büchern

Meist passiert es im Alltag: zehn Minuten Zeit zu früh vor einem vereinbarten Treffen verleitet die Buchhandlung dazu, am Eingang die Stapel mit den Neuerscheinungen zu sichten. Oder ein Fund im „Bücherschrank“ an der Haltestelle lädt zu unverbindlichem „Anlesen“ ein. Und immer wieder einmal die Erwähnung von Autoren-Namen und aufblitzende Erinnerungen an frühere Werke, die mich hineingesogen haben in bis dato unbekannte Welten. So taucht dann das Vorkriegs-Dresden am schwarzen Sandstrand von La Palma auf oder die Party-Szenerie New Yorks auf dem Balkon einer österreichischen Ferienwohnung… Drei Titel aus meinem aktuellen Bücher-Stapel:

Stay away from Gretchen – eine unmögliche Liebe

Roman von Susanne Abel, erschienen 2021, inzwischen im dtv-Verlag als Taschenbuch für 12,95€.

OMG (Oh my God!) – was für ein Szenario! Ein bekannter Fernsehmoderator, der routiniert die bekanntesten Politiker*innen interviewt, herrisch sein kann, aber auch empathisch angesichts völlig unbekannter Menschen. Er kümmert sich sporadisch um seine 84jährige Mutter, doch Telefonate reichen bald nicht mehr. Denn diese Greta macht merkwürdige Dinge, und auch mit Unterstützung einer Nachbarin lässt sich der Schein des Alltags einer wohlhabenden Seniorin immer weniger aufrecht erhalten.  Die Autorin, eine erfahrene Dokumentarfilmerin, schafft laufend Bezüge zur Lebenswirklichkeit vieler. Mit der Demenz entfaltet sich die bisher versteckte Geschichte Gretas: die Flucht aus Ostpreußen, die Nachkriegszeit im amerikanisch besetzten Heidelberg, die Liebesbeziehung zu einem farbigen GI, das Schicksal der„brown babys“. Das alles ist spannend inszeniert. Mich beeindruckt, dass es in Roman-Form um sonst gerne verdrängte Familien-Themen geht. Demenz, Familiengeheimnisse, transgenerationale Traumata.  Die Regale mit Sachbüchern dazu werden sonst links liegen gelassen. „Stay away from Gretchen“ ist eine Titel-Liste mit Empfehlungen angefügt. Und Susanne Abel schreibt weiter…

„Kummer aller Art“

Literarische Kolumnen von Mariana Leky, Dumont Buchverlag, geb. 22 €, 2021

Lekys Bestseller „Was man vor hier aus sehen kann“, inzwischen auch als Taschenbuch erhältlich, habe ich oft verschenkt an ganz unterschiedliche Menschen – und alle hat diese skurrile, kluge und humorvolle Dorf-Geschichte erreicht. Nun also kurze Texte für diejenigen, die neben den großen Problemen von Klimawandel bis Ukraine-Krieg in Lekys Begleitung dem „Kummer aller Art“ in der Nachbarschaft, im Park oder mal auf der Bahnhofstoilette begegnen können. Auch dabei geht es um Großes wie Zwänge, Verzweiflung, Einsamkeit, die Suche nach Entspannung, das Hadern mit dem Leben. Patentlösungen finden sich nicht in den Schilderungen, aber die Begegnungen und das gemeinsame Spazieren, Zuhören und Reden bringen weiter. Mir kam der Appell des Vaters in Lekys Dorf-Roman in den Sinn: „Ihr müsst dringend mal ein bisschen mehr Welt hineinlassen.“

WIR HERRENMENSCHEN – unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte

Von Bartholomäus Grill. Pantheon-Verlag, Taschenbuch 16,00, 2021, die Originalausgabe erschien 2019.

Der Fahrer eines Kölner Linienbusses mit mir als einzigem Fahrgast musste mich daran erinnern, dass sein Heimatland Kamerun auch deutsche Kolonie war. 29 Millionen Menschen leben heute, wo 1884 ein deutscher Generalkonsul „Schutzverträge“ mit regionalen Herrschern abgeschlossen und Kamerun zur Deutschen Kolonie erklärt hatte. Durch den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg ging das Land an den Völkerbund, der Frankreich und Großbritannien ein Verwaltungsmandat erteilte. Ach ja, Namibia mit seinen deutschen Ortsnamen ist heute ein beliebtes Reiseziel. „Tönt es wie ferne Klänge von Trägern und Askari: Heia, heia Safari“ – als Kind lernte ich dieses Lied ohne zu wissen, wer das war: zwangsrekrutierte namenlose Hilfstruppen des Deutschen Reiches in Ostafrika. Ein großer „blinder Fleck“.

Wie gut, dass Bartholomäus Grill in seinem Buch mitnimmt auf Expeditionen in die deutsche Kolonialgeschichte. Er lebt in Kapstadt und hat als Korrespondenz der „Zeit“ und des „Spiegel“ vier Jahrzehnte lang aus Afrika berichtet.  Hundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit macht er eine „kollektive Amnesie“ und „verharmlosende Stereotypen“ aus. Vor allem aber konstatiert er, dass nach wie vor die Medien des Westens eine Deutungshoheit über Afrika ausüben. Grill räumt ein, als Korrespondent nicht immer gefeit gewesen zu sein „gegen den mitleidsvollen Ton der Viktimisierung“. Nach dem Lesen bleibt die Erkenntnis, dass noch viel Wissen und Begegnungen mit den Menschen des „Nachbarkontinents“ fehlen. Denn die Frage lautet: „Haben wir es tatsächlich geschafft, die alten kolonialen Denkmuster zu überwinden?“