„In andere Zeiten schlüpfen…“ hatte ich im Juni den Text über meine ersten Erfahrungen als Komparsin vor über einem Jahr überschrieben. In der Stadthalle von Bad Godesberg bin ich ich Teil des Publikums einer abendlichen Lesung. Ingeborg Bachmann, gespielt von Vicky Krieps, stellt ihren ersten Prosa-Band vor. Jetzt ist der Film „Ingeborg Bachmann – eine Reise in die Wüste“ endlich in den Kinos zu sehen. Es geht um die Beziehung der Dichterin zu Max Frisch und wie sie nach deren Scheitern zu einer Wüstenreise aufbricht. Faszinierend für mich, wie bestimmt Regisseurin Margarethe von Trotta leise und mit wenigen Sätzen Darsteller und Kamera-Team dirigiert. Sehenswert!
In diesem September dann der Drehtag für eine Fernsehserie mit dem Arbeitstitel „A Better Place“, eine Koproduktion der ARD mit Sendern in Frankreich und Österreich. Zunächst waren im Rheinland hunderte Komparsen mit Tätowierungen, Narben und/oder Kampfsport-Erfahrung-gesucht worden. Dann eine weitere Anfrage, ob ich wie weit über hundert andere als Demonstrantin dabei sein wolle. Das beschert mir 12 Stunden an der frischen Luft in Leverkusen vor dem „Forum“, das als „Rathaus“ firmiert. Gesichert durch Absperrgitter und Polizeibeamte – sehr echt. Am Rande des Platzes mit Handtüchern, Klamotten, leeren Flaschen und Protestplakaten ausstaffierte Zelte einer „Mahnwache“. Die Requisite verteilt Buttons, Plakate mit Parolen. Per Megafon werden wir instruiert, was wir zu rufen haben. Geballte Empörung gegen ein Resozialisierungs-Projekt, das vom Bürgermeister und einer Wissenschaftlerin initiiert wird. Das örtliche Gefängnis wird geschlossen, die bisher Inhaftierten sollen durch Arbeit, Wohnung, Therapie und Begleitung wieder in die Gesellschaft integriert werden. Dagegen gibt es Einwände nicht nur von Opfern und deren Angehörigen, sondern nach Pannen eben auch von empörten Bürgerinnen und Bürgern. Ein Versuch des Bürgermeisters, am Absperrgitter das Gespräch mit der aufgebrachten Menge zu suchen, scheitert.

Wir Komparsen müssen immer wieder unsere Positionen wechseln- später soll aus uns mithilfe digitaler Verfahren eine riesige Protestkundgebung Tausender werden, die den ganzen Platz ausfüllen. Immer wieder unsere wütenden Rufe, das wilde Schwenken der Plakate – perfekt, dass manche handgemalten Schilder auf Pappe Schreibfehler aufweisen. Stundenlang ist das anstrengend wird langweilig. Spannend bleibt die Unterschiedlichkeit der Menschen neben mir, unsere kurzen Gespräche und die längeren während der Mittagspause mit Catering. Aber ich spüre zunehmend Irritationen, weil mir die wütenden Stimmen zu viel werden und die Menge sich so rasch auf einen lautstarken „Schlachtruf“ einigen kann. Wo sind die Zweifelnden, die Ängstlichen, die Verletzten noch auszumachen in dieser brodelnden, nach vorne gegen die Gitter drängenden Masse? Warum suchen so viele die Nähe des Mannes, der sich als Anführer der Protestbewegung herausstellt und zu massiver Gewalt aufruft? Er führt einen „Marsch“ Richtung Stadtzentrum an. Es gibt nur wenige Regie-Hinweise – und schon werden diejenigen, die weiter auf Diskussionen über eine Lösung setzen, an den Rand gedrängt und beschimpft. Schließlich bleibe ich mit einer der kleineren Gruppen kopfschüttelnd zurück.
Ende 2024 soll „A Better Place“ im Ersten und in der ARD-Mediathek zu sehen sein. Anders als beim Bachmann-Film konnte ich diesmal nicht in eine andere Zeit und deren Kostüme und Räume schlüpfen. In meiner eigenen Kleidung stecke ich in der Rolle der aufgebrachten Demonstrantin und hätte doch lieber auf der Seite derjenigen gestanden, die sich für ein Gelingen des Projekts einsetzen. Nach diesem Drehtag bleibt die Erkenntnis, wie leicht Aufruhr angezettelt werden kann, wie einfach es ist, mit der Mehrheit zu brüllen und die Fäuste zu recken. Und dass ein Ausscheren einzelner aus der Masse sie verletzenden Beschimpfungen aussetzt. Sich der Menge zu entziehen befreit aber auch und schafft andere Möglichkeiten.
Das wiederum führt mich zurück zu dem mehrfach gedrehten Ende der Lesung Ingeborg Bachmanns bevor wir alle zu applaudieren hatten. Unvergesslich bleiben ihre letzten Worte im Ohr: „Ich sage dir: Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen.“ *) CB
*) Erzählung „Das dreißigste Jahr“ in der gleichnamigen Taschenbuchsonderausgabe, 12.Auflage, Januar 2020, Piper-Verlag