„Kein Ring, kein Gold …“

Im zweiten Corona-Jahr ist normal, dass mein wöchentlicher Gesangskurs mit bis zu 18 Menschen im Saal über einem Kindergarten nun eine Zoom-Veranstaltung ist. Immer noch besser als allein bekannte Melodien zu singen oder gar zu verstummen. Also ein neues Lied: „Zeit zu leben“ singen wir Reinhard Mey nach und wünschen uns dabei vor den Schulferien mehr unbeschwertes mit Frikadellen im Biergarten, Schwimmen mit dem Hund in einem Alpen-See und Dösen ohne Blick auf die Uhr im Garten. Jahre vor Corona wurde der Refrain getextet: „Kein Ring, kein Gold, kein Leid. Nichts bleibt, nichts bleibt, nichts bleibt.“

Da blitzt kindlicher Widerstand in mir auf, das stolze Gefühl an Großeltern mit eigenem Ladengeschäft für Schmuck, Uhren, Porzellan, Kristall und durch den Einstieg des Onkels auch Brillen. Mitten im Dorf bei Köln gegenüber der romanischen Kirche kam die fromme Kundschaft auch nach der Messe sonntags durch den Hintereingang und saß bei Kaffee mit uns am großen Tisch in der Wohnküche neben der Werkstatt. Bewegungslos gewordene Uhren kamen in Reparatur, das Goldarmband zur Silberhochzeit wurde einem Tresor entnommen, Wanduhren tickten wieder und ließen sich nach Zahlung unter den Arm packen.

Eine Dreiviertelstunde Busfahrt vom Kölner Vorort war das glitzernde Paradies entfernt, Wochenenden und Ferien dort machten mich zum „Weech“, also der Tochter „vom Ries Mia“. Ihr Ehename interessierte nicht, Meine Mutter brachte mich seit ich drei, vier Jahre alt war zum Linienbus, sie kannte meist den Fahrer. Nur durch den Gang von ihm getrennt konnte ich in der vordersten Sitzreihe mitfahren bis zum Dorf, wo mich die Tante erwartete. Es gab viel zu tun: Porzellan und Glas aus Kisten und Kartons voller Holzwolle befreien. Die Perlen einer gerissenen Kette in der Rinne eines Holzbretts so anordnen, dass die Tante sie nach Geschäftsschluss neu auffädeln und mit Knoten sichern konnte. Ein Fernseher kam erst später.

Vor zwei Jahren ist die Tante, die weit über das reguläre Renteneintrittsalter im Geschäft gearbeitet hatte, gestorben. Bei meinem letzten Besuch im Krankenhaus war sie schon sehr geschwächt. Doch sie griff sie nach dem Ehering an meiner rechten Hand. „Der ist doch echt, ist das Platin?“ flüsterte sie, ganz Fachfrau. Ich musste sie enttäuschen. „Nur Edelstahl mit einem schmalen Goldstreifen in der Mitte.“ Ob sie die Erklärung noch hörte? Mein Mann hat seinen ersten Goldring beim Gestikulieren auf dem Balkon in das Gestrüpp vor einem Motel an der US-Ostküste geschleudert, unabsichtlich. Aus Gold auch die beiden Nachfolge-Ringe, von denen seiner vom kalten Finger ins Meer vor La Gomera rutschte. Ich hatte mehr Glück mit einem verlorenen Saphir-Ring, den ich nicht oft trug. Beim Umschichten des Komposthaufens lag er Monate später völlig unspektakulär auf der Schaufel.

Ein besonderes Foto von der Reise entlang der US-Ostküste. Suche nach einem Ring

Seit über zwanzig Jahren sitzt nun die Edelstahl-Variante der Eheringe unerschütterlich fest an unseren Fingern. Und das, obwohl ich durch den Laden schon als Kind und durch das Vorbild der Großeltern und Tanten eine kritische Distanz zu „Modeschmuck“ hatte. (Einmal abgesehen von einer Zeitspanne ab 12, als nicht nur indische Wickelröcke und -blusen, sondern auch bunte Ketten mit winzigen Perlen chic waren. Schon Jahrzehnte vor allen Influencerinnen hatte ich in Kindergarten und Schule für das Geschäft der Großeltern geworben: Am Pullover für einen goldenen Marienkäfer mit rot emailliertem Panzer, am Handgelenk die erste winzige goldene Uhr. Und gern erzählt wird, dass ich auf den Stufen vor der Ladentür saß und Vorübergehenden die Frage stellte: „Wie wär’s denn mit einer Brille?“

Übrigens, kein, aber auch wirklich kein weibliches Familienmitglied trug Ohrringe. Auch ich hatte Angst vor dem Stechen der Löcher. Denn ab und zu sah ich den „Tick-Tack-Opa“ aus dem Laden in die Werkstatt stürzen und nach der Salmiak-Flasche greifen. Der starke Geruch holte dann ein Mädchen aus der Ohnmacht. Da begleitete ich doch lieber die zierliche

„Tick-Tack-Oma“ mit der großen schwarzen Tasche bei ihrer wöchentlichen „Dienstreise“ per Bus nach Köln.  Dort orderte sie bei den Großhändlern neue Ware – ich schaffte es immer, mich graziös zu bewegen zwischen den niedrigen Ausstellungs-Tischen auf Augenhöhe mit Kristall und Porzellan. Danach der Besuch in einem Café, bevor wir den Bus zurück bestiegen. Und einmal das Einzelexemplar eines rosa Leinenkleids, in dem ich – und später meine Schwester- mich vom Doppelpack identischer Kleider und Kostüme abhob, die meine beiden Cousinen und wir beide zu tragen hatten. Nur einmal ist mir eine schwere Kristallschale voll Sand heruntergefallen. Darin sollten Blumen sicher vor Böen sein. Denn Ende Juni wurde am Altar unter einer alten Linde der Schlussgottesdienst der Dorfprozession gefeiert. Geschimpft hat niemand. es gab mehrere dieser Schalen.

Geerbtes, Verlorenes und Neues

Den Laden gibt es schon Jahrzehnte nicht mehr, geerbte Stücke ruhen ungetragen in Schmuckschatullen. Aber wie gut, dass es auch heute Goldschmiede gibt, die Neues aus vergessenen Erinnerungsstücken.  Ab und zu kommt mir selbst eine Idee:

Die winzigen Diamanten stammen aus einem Ring, den meine Schwester und ich vor unserem Haus gefunden haben und den wir nach einem Jahr im Fundbüro behalten durften. Also Augen auf!

Ketten mit echten Perlen oder Zuchtperlen passen nicht zu mir- es fehlen zum Beispiel die blauen und schwarzen Kostüme. Aber mit dem eingefügten Frosch aus dem Museumsshop in Umbrien, dessen Urform von den Etruskern stammt,  gibt es Gesprächsanlässe auch dann, wenn mich keiner kennt.

Ähnlich – eben kein Dirndl- und Trachtenmoden-Typ- geht es mir mit der Perlenkette der „Tick-Tack-Oma“. In Bad Aussee verschönert eine Künstlerin von der Taufkerze bis zum T-Shirt vieles mit ihren Miniaturen. Der auf einer Hirschhorn-Scheibe porträtierte Hund muss eigentlich bekannt sein.

Übrigens trägt Reinhard Meys Lied aus dem Jahr 2016 einen Titel, der mir sympathischer ist als die Zeilen „Kein Ring, kein Gold, kein Leid. Nichts bleibt…“. Denn der lautet „Es wird Zeit zu leben, endlich Zeit…“ Dem kann ich nur zustimmen, und noch eins:  Schmuckstücke, die ich trage, sind schöne und manchmal auch traurige Erinnerungen an Menschen, Orten und Zeiten. Sonst blieben sie in der Schatulle. CB

2 Kommentare zu „„Kein Ring, kein Gold …“

  1. Beim Lesen der Erzählung musste ich schmunzeln, dachte an die Armbanduhren, die ich nach dem Kirmisbesuch stolz trug, auf der Stufe des kleinen Edeka-Ladens sitzend, auf dem Lande. Später die geerbten Goldstücke, die heute unregelmäßig, aber dann sehr ausgewählt getragen werden. An der Mauer hinter dem kleinen Tunnel sah ich letzte Woche mit Freude ein neues Graffiti `LIEBE LEBEN´, passt gut zusammen mit `Zeit zu leben´ …

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  2. Wieder ein wunderbarer Text, der mich in meine Kindheit zurückversetzt. Meine Eltern hatten ein Lebensmittelgeschäft, in dem ich meine „Extrawünsche“, wie zum Beispiel eine Banane, bezahlen musste. Einmal waren mir dafür 8 Pfennig zu viel, und ich behielt lieber meine acht Pfennigstücke. Und der Inhalt des Refrains „Es wird Zeit zu leben“ könnte mit diesem Text bereits in der Kindheit begonnen haben: Da hatten wir schon wunderbar gelebt… Danke

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