Flugangst
Die eine oder andere Unfall-Meldung weckt die Erinnerung. Es war in einem Mai wie aus dem Bilderbuch, als Slowenien noch Teil Jugoslawiens war und eine Tagung des internationalen Jugendverbandes in Ljubljana/Laibach etwas ganz Besonderes. (Als ich später als Reporterin dorthin musste, war ich auf dem Frankfurter Flughafen erschrocken, wie klein die Maschine neben den riesigen Passagierflugzeugen wirkte.) Der 24-jährige Student hatte Flugangst und brauchte im Auto lange, auch wegen der Wartezeiten an den Grenzen, der Realität des Eisernen Vorhangs. Auf der letzten Etappe dann der Zusammenprall mit einem Lastwagen. Er starb direkt am Unfallort. Im Mai! So jung! Seitdem traue ich zwölf Monaten alles zu.
Trauer-Spezialist
Die Nachbarin war uns vertraut geworden. Über Jahre hatte sie in kurzen, zufälligen Gesprächen viel erzählt aus ihrem inzwischen 70-jährigen Leben. Vermutlich war sie selbst überrascht, als der Tod nach dem schweren Herzinfarkt nicht an ihr vorüberging. (Wobei eine lange Genesungszeit wäre auch nicht ihr Ding gewesen). In der Kirche würdigte der uns unbekannte Pfarrer ausführlich ihr Leben, umschrieb mit herzlichen Worten, wie sie sich – nicht nur, aber auch – für Kirchenprojekte engagiert habe. Mir schien, von dem großen Foto im Altarraum sah sie erfreut und stolz auf den Redner am Pult und die Menschen im Kirchenschiff. Die nickten immer wieder bestätigend. Nach der Beisetzung sprach ich den Pfarrer an, wie gut er sie gekannt und beschrieben habe. Seine Antwort: „Ich kannte sie gar nicht persönlich. Ihre Angehörigen haben mir kurz etwas erzählt.“ Ich war sprachlos.

Mehr lebendig als tot
Der Tote war bis zum Ende überzeugt davon, dass er seine gleichaltrige Frau überleben werde. War sie es doch, die sich immer wieder Operationen hatte unterziehen müssen, deren Medikamenten-Packungen mehr Raum auf dem Küchentisch einnahmen als seine Pillen. Dazu ihre Demenz, die er lange leugnete. Immer öfter verbarg er sie dann, um peinliche Situationen zu vermeiden. Endlich stimmte er nach eigenen Krebs-OPs ihrem Umzug in eine Demenz-Wohngemeinschaft im Pflegeheim zu. An seiner Beerdigung nahm sie teil, im Rollstuhl. Die Trauer-Rituale der Kirche, die Gebete waren ihr noch vertraut – mehr als die Angehörigen, die früheren Kollegen ihres Mannes, die Nachbarn. Eine unsichtbare Barriere schien alle daran zu hindern, sie zu begrüßen, ihre Hände zu ergreifen, sie anzulächeln, ohne eine passende Antwort zu erwarten. Besuch „im Heim“ war sehr rar. Dabei ließ sich entdecken, wie fröhlich sie sein konnte, wenn junge Pflegekräfte mit ihr scherzten oder Lieder und Fragen unvermittelt aus ihr heraussprudelten. Am Leben eben.

Schmetterling
Die Mutter starb im September, die reiche Ernte des alten Apfelbaums und die Küchenmesser beschäftigten die Hände, während wir am Tisch auf der Terrasse saßen. Zeit, über sie, die heutige Beerdigung, viele Erlebnisse mit ihr und Fragen zu sprechen. Ich weiß nicht mehr, wer zuerst den Schmetterling sah. Von wegen Kohlweißling oder Pfauenauge, groß wie eine Hand war er. Lange flatterte er zwischen dem lila blühenden Sommerflieder und der Terrasse hin und her. Ich bin nicht der esoterische Typ, aber seltsam war es schon. Eine Botschaft? Genießt das Leben und nehmt es leicht? Einen solchen Schmetterling hatten wir schon einmal gesehen: vor einem Blumengeschäft in Manhattan auf einem großen Strauß, nur einen Block vom Central Park entfernt. Am nächsten Tag berichtete das Lokalfernsehen darüber, wie eine Grundschulklasse bei uns im Vorort über Wochen Schmetterlingsraupen gefüttert und beobachtet hatte. Gestern waren die Schmetterlinge geschlüpft und losgeflattert. Handtellergroß. CB