Eine Bushaltestelle, das Erdbeben und drei Rosen

Vorbemerkung

Wer mich kennt, weiß, dass ich Geschichten über Begegnungen liebe, die nicht geplant waren und die Folgen haben. Diesmal stammt der Text von einem türkischen Autor, der seine Heimat vor einigen Jahren verlassen musste, nun hier wohnt und Deutschland erlebt: CB

Vor einigen Wochen hatte ich zwei Freunde nach Hause eingeladen, die wie ich die Türkei verlassen mussten und nach Deutschland kamen. Die beiden sind jünger als 40, der eine lebte in derselben Stadt wie ich, der andere in einem rund 20 Kilometer entfernten Ort. Ich selbst bin 50. Während des Abendessens nutzten wir die gemeinsame Zeit, um über alle möglichen Themen zu diskutieren.

Dann brachen wir auf, der eine musste nur zur Bushaltestelle, den anderen wollte ich ein paar Straßen weiter nach Hause fahren.  Zusammen warteten wir an der Haltestelle, weil der Bus Verspätung hatte.  Es war kalt und regnete – eben ein deutscher Winterabend.  Als der Bus endlich kam, wollte hinter dem Freund auch eine wartende Frau einsteigen, die ihm aufgeregt Fragen stellte. Er verwies sie an mich und bat mich, ihr zu helfen. Sie sah erschöpft und nass aus, war wohl über 70 Jahre alt.

Ich bekam heraus, dass die Frau hier umsteigen wollte, um nach Hause in eine rund 15 Kilometer entfernte Stadt zu kommen. Die Ortsangabe auf dem Bus-Schild aber war eine andere. Sie hatte an der Haltestelle auf der falschen Straßenseite gestanden. Ich sagte ihr, diesen Abend werde kein Bus mehr in Richtung ihrer Stadt fahren und bot an, sie in meinem Auto nach Hause zu bringen. Sie wirkte verunsichert. Was mich nicht überraschte, weil sie mich ja nicht kannte. Aber in unserer Kultur wird gestrandeten Menschen immer geholfen – auch wenn der Strand eine Straße ist. Ich erzählte ihr kurz von mir, meiner Familie und versicherte, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Um nicht noch mehr nass zu werden, bat ich sie, auf der Bank in der überdachten Bushaltestelle zu warten, während ich den Freund nach Hause fuhr und in fünf Minuten zurück war. Beim Einsteigen in mein Auto schien es, als wäre ihre anfängliche Nervosität verflogen. Vielleicht hatte sie Bekannte oder ihren Mann angerufen und die Situation geschildert.

Während der Fahrt unterhielten wir uns. Auch darüber, warum wir nach Deutschland kommen mussten. Die Frau war im Bus in eine andere Stadt gefahren, in der ihr Mann im Krankenhaus lag, und wollte nun hier auf der Rückfahrt nach Hause umsteigen. Er hatte eine Krebs-Diagnose erhalten. Die Kinder lebten inzwischen in anderen Städten. Einmal hätten sie und ihr Mann Urlaub in der Türkei gemacht. Wie sie über Bodrum redete, spiegelte für mich die Wärme dieses Ortes wider.

Als wir ihre Wohnung erreichten, konnte sie mir nicht genug für die Fahrt danken. Auch wenn ich ihr sagte, dass es nichts gebe, wofür sie dankbar sein müsse. Ich wusste, dass es Gott war, der uns an diesem Abend zusammengebracht hatte. Wir tauschten noch unsere Telefonnummern aus. Ich lud sie zu uns nach Hause zu einem türkischen Essen ein, wenn es ihrem Mann besser gehe. Auf meiner Heimfahrt klingelte das Handy, ich hielt am Straßenrand an. Es war wieder mein Fahrgast. Sie bedankte sich auch im Namen ihres Mannes noch einmal bei mir.

Ein paar Tage später schrieb ich der Frau eine SMS und erkundigte mich, wie es ihrem Mann gehe. Sie antwortete, der Krankheitsprozess schreite voran, ihre Tochter und ihr Sohn seien gekommen. Wir würden für ihren Mann beten, versicherte ich. Nachdem ich kurz darauf eine weitere Nachricht geschickt hatte, blieb eine Antwort aus, und ich machte mir große Sorgen um ihren schwerkranken Mann. Wir sollten uns leider nie persönlich begegnen. Denn zehn Tage später schrieb sie, er sei am vergangenen Sonntag verstorben. „Glücklicherweise konnte ich ihn in seinen letzten Tagen zu Hause pflegen“.

Diese Nachricht erreichte mich am 6.Februar, dem Tag des Erdbebens in der Türkei und Syrien. Obwohl sie um ihren Mann trauerte, erinnerte sie sich an unsere Begegnung und rief mich an. Ob sie uns helfen könne, fragte sie. Ich dankte ihr für ihr Mitgefühl, das für uns eine besondere Bedeutung hatte. Denn Verwandte meiner Frau waren nach dem ersten großen Beben rund zehn Stunden in dem beschädigten Gebäude eingeschlossen, das ihr Zuhause gewesen war. Aus eigener Kraft und mit der Unterstützung von Nachbarn hatten sie sich befreien können. Inzwischen sind sie in Ankara in Sicherheit.

Am Ende des Telefongesprächs lud die Frau uns zur Bestattung ihres Mannes ein. Für meine Frau und mich das erste christliche Begräbnis. Wir fragten eine deutsche Freundin, wie wir uns verhalten sollten.  Auf dem Friedhof warteten wir, weil zunächst Verwandte und enge Freunde der Frau ihr Beileid aussprachen. Schließlich waren auch wir an der Reihe. Als wir sie umarmten, kamen uns allen die Tränen. Drei weiße Rosen legte meine Frau auf das Grab. Sie könnten ein Symbol der Verbundenheit sein zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen, die sich nahegekommen sind über Grenzen der Fremdheit hinweg. Wir haben wohl auf die Stimme unseres Herzens gehört.

Was da 2023 im Kreis Lippe geschehen ist, erinnert mich jedenfalls an die Worte des berühmten islamischen Dichters und Mystikers Mevlana aus dem 13.Jahrhundert: „Nicht diejenigen, die dieselbe Sprache sprechen, können miteinander auskommen, sondern diejenigen, die dieselben Gefühle teilen.“

Mert Ender Sarpca im Februar 2023

2 Kommentare zu „Eine Bushaltestelle, das Erdbeben und drei Rosen

  1. Danke für deine Geschichte mitten aus dem Leben. Sie macht Mut und wärmt das Herz.

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  2. Wie so häufig auf deinem Blog wieder ein sehr berührender Beitrag, der auf zutiefst menschliche Weise von einem Stück Himmel mitten im Alltag berichtet. Danke.

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