Zwanzig Jahre Sehnsucht nach der Abwesenheit

Für mich gibt es einen Platz, an dem waren alle dem Himmel näher als irgendwo sonst auf der Welt.

Dort begegneten sich Tag für Tag Menschen jeden Alters und von allen Kontinenten: Im Jahr 2000 sah ich sie auf der 410 Meter hohen Aussichts-Plattform des „World Trade Center“ in New York:

Staunende japanische Kinder und ihre Eltern, die anderen Besuchern eine Kamera in die Hand drückten und sie baten, ein Erinnerungsfoto zu machen.

Orthodoxe Juden in schwarzem Kaftan und mit langen Schläfen-Locken unter dem breitkrempigen Hut wiesen ihren Enkelkindern die Blickrichtung zur Insel der Freiheits-Statue und weit über das Meer. Dort waren sie hergekommen.

Junge, modisch gestylte Chinesen zeigten einem zerbrechlich wirkenden alten Paar offenbar ihre neue Heimat.

Die September-Sonne verlieh allen Gesichtern unabhängig von Herkunft und Hautfarbe einen freundlichen Ausdruck.

Auf dem Dach der Welt, dem „Top of the world“, waren sie alle vereint im Staunen, gingen nebeneinander oder mit Abstand umher.  Die meisten ruhig, als konzentrierten sie ihre Kraft auf das Schauen, emotional angerührt von der Einmaligkeit des Daseins in schwindelnder Höhe. Denn nichts war zu hören, nichts zu spüren von dem Gedränge in den Straßenschluchten tief unten, dem Hupen der Autos, dem Schreien und Schimpfen der Menschen, die schneller vorwärtskommen wollen. Irgendein Ziel gilt es immer zu erreichen nicht nur in Manhattan.

Vor fast 20 Jahren haben die Terroranschläge vom 11. September 2001 mit den Zwillings-Türmen auch die Aussichts-Plattform in den Abgrund gerissen. Die kleine Kirche, in die sich die Bergungskräfte an den Tagen, Wochen und Monaten danach flüchten konnten um Ruhe zu finden, wurde jahrelang zu einer rührenden, weil improvisierten Gedenk-Stätte mit Kinderzeichnungen, Bitten und Gebeten.  Heute erinnern zwei riesige Wasserbecken an den Standort der beiden Türme. „Reflecting Absence“ – was für ein tiefsinniger Name.

Mit der Bezeichnung des neu zu errichtendem Gebäude tat sich die Stadt schwerer. Bis 2009 kursierte der Name „Freedom Tower“. Doch das sei den Behörden zu emotional gewesen, habe ich nachgelesen. Jetzt windet sich das metallische „One World Trade Center“ mit seinen scharfen Kanten in die Höhe. Natürlich mit einer Aussichts-Plattform in 381 Metern Höhe.

Wenn sich um 9/11 wieder die Bilder der einstürzenden Türme verbreiten, löst das jedes Mal Entsetzen in mir aus. Aber es bleibt auch nach zwanzig Jahren die leise und nicht auszulöschende Sehnsucht nach dieser für immer verschwundenen Plattform, auf der ich der Weite der Welt so nahe war wie sonst nie. Durch die Menschen, die dort oben zusammen mit uns waren: jede und jeder einzigartig.                   CB

Foto: Joachim Heine

2 Kommentare zu „Zwanzig Jahre Sehnsucht nach der Abwesenheit

  1. Sehr berührend geschrieben. liebe Christel.

    9/11 hat sich auch mir unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt.

    Danke, dass Du mich an Deinen Eindrücken teilhaben lässt.

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  2. „Ich war noch niemals in New York“, leider. Aber ich weiß ganz genau, wo ich diesen unfassbaren Anschlag am Fernsehen verfolgt habe. Es herrschte eisiges Entsetzen im Büro meines Kollegen, der als Leiter der Video-Abteilung ein Fernsehgerät in seinem Büro hatte und der mich angerufen hatte, ich solle doch schnell zu ihm ins Büro hoch kommen. Da standen wir, vier oder fünf Leute, schweigend, fassungslos, sprachlos, mit vor den Mund gehaltener Hand. Die damit verbundenen Gefühle steigen sofort wieder auf, wenn ich an die Bilder erinnert werde …. Was Menschen doch anrichten können. Einfach nicht zu fassen. Danke für deinen wunderbaren, sehr berührenden Beitrag. josch

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