Nicht nur zur Weihnachtszeit

Beim Aufräumen fand ich eine Reihe von kurzen Texten, die vor langer Zeit für einen Verlag entstanden, der sie zum Abdrucken in lokalen Zeitschriften und anderen Blättern anbot. Manches hat seine Aktualität behalten, finde ich.

Der leere Stuhl

In diesem Jahr

soll an unserem Tisch

ein Stuhl frei bleiben

für die Fragenden

für die Suchenden

für die Sprachlosen

für die Fremden

für die Resignierenden

für die Weinenden

für die Verletzten

für die Frierenden

in diesem Jahr

soll an unserem Tisch

ein Stuhl frei bleiben.

Der Text von 1983 erinnert an den Brauch in Polen, beim ausgiebigen Weihnachtsmahl einen Platz freizulassen für den unerwarteten Gast. 1982 während des Kriegsrechts in Polen durfte ich das erste Mal die ganzjährige Gastfreundschaft der Polen selbst erfahren, als ich in Krakau bei einer älteren Frau und ihrer Tochter einige Tage übernachtete. Der Ehemann und Vater, ein Arzt, war 1940 in einem Wald bei Katyn ermordet worden – einem der Orte für die von Stalin angeordneten und erst 1990 von Gorbatschow offiziell eingeräumten Verbrechen an polnischen Offizieren.

Ob die im Grenzgebiet von Belarus zu Polen ausharrenden Menschen einen Platz finden?

wir wollen

die ewig zweifelnden bekehren

wir wollen

in fernen ländern missionieren

wir wollen

die skeptiker überzeugen

wir wollen

die hoffnungslosen aufmuntern

wir wollen die ganze welt verbessern

uns selbst ändern

wollen wir nicht

zwischen den zeilen

zwischen den beurteilungen

zwischen den programmen

zwischen den versprechungen

wartet versteckt die lösung

auf ihre entdeckung

Die Weihnachtskarte stammt aus meiner Kindheit und erinnert an Bastelarbeiten mit gebügelten Strohhalmen, die oft anbrannten…

das kind

klein von gestalt

groß im vertrauen

arm an besitz

reich anlachen

schwach an kräften

stark an gelassenheit

voller liebe

also kein grund

darauf

herabzusehen

Schöne Weihnachtstage, ruhige und nachdenkliche Tage „zwischen den Jahren“ und ein 2022, in dem sich manche Wünsche erfüllen und Überraschungen erfreuliche sind.
Christel Boßbach

4 Kommentare zu „Nicht nur zur Weihnachtszeit

  1. Liebe Christel, schön dass Du Dich vor einiger Zeit entschlossen hast uns teilhaben zu lassen. Deine Geschichten und Texte sind so schön geschrieben, variabel, vielfältig, nachdenklich und auch amüsant. Erinnerungen an früher, Erlebnisse sowie die Aktualität.
    Ich freue mich auf 2022 und weitere Texte.
    Dir, Joachim und Funny ein schönes Weihnachtsfest und ein gutes und gesundes Neues Jahr 2022.

    Gefällt 1 Person

  2. Liebe Christel,
    das sind Worte, die nachdenklich machen. Vielen Dank dafür.
    Ich wünsche Dir und Deinen Lieben eine gesegnete Weihnachtszeit!
    💗-liche Grüße – Deine Karolap

    Deine

    Gefällt 2 Personen

  3. Die Texte erinnern mich an Texte von Wilhelm Willms. Sie sind für mich substanziell christlich-human. Sie appellieren an unsere Mitmenschlichkeit. Ohne diese Hinwendung an den bedürftigen, schutzlosen Mitmenschen ist Gemeinschaft nicht möglich. Ich danke dir für diese wunderschönen Texte.

    Gefällt 1 Person

Kommentare sind geschlossen.