Der Mann mit dem Hut und der Rotkäppchenweg

Aufgewachsen bin ich in der „Märchensiedlung“ im rechtsrheinischen Köln nach den Regeln der 1960er Jahre: alle Erwachsenen grüßen, kein Krach in der Mittagszeit, Bitte und Danke, nicht neugierig fragen. Das Kopfsteinpflaster sorgte für zerrissene Strumpfhosen und Narben. Von einer wilden Verfolgungsjagd zeugt bis heute ein beschädigter Fingernagel, eingeklemmt durch das rettende grün-weiße Holztörchen zum Vorgarten. Es gab wenige Autos und hohe Hecken, Obstbäume, Gemüsebeete und natürlich den Sandkasten auf dem mechanisch gemähten Rasen.  Zwischen den Gärten nicht immer verschlossene und damit zu erkundende „Mist-Wege“ und ein Spielplatz im Schatten von Kastanienbäumen. Das Haus aus den 1920er Jahren war nur teilunterkellert für Kartoffeln und Briketts. Der Kachelofen beheizte auch den ersten Stock, aus der Waschküche dampfte es an Montagen, auf dem Hof die Regentonne und darunter eine Sickergrube. Mein Großvater hatte das Haus im Mietkauf von der Wohnungsbaugesellschaft GAG erworben. Als ich acht Jahre alt war, zogen wir dann nebenan in den Neubau, das Eckgrundstück war groß genug, nur der riesige Kirschbaum, der Mirabellenbaum und eine Kiefer wurden geopfert.

Englische Gartensiedlungen waren das Vorbild. Die Frage erübrigt sich, welches Karnevalskostüm ein Mädchen wohnhaft im Rotkäppchenweg zu tragen hatte… GAG-Archiv.

Vom „Plätzchen“ im Rotkäppchenweg zweigt das Rapunzelgässchen ab – mit imponierender Villa   und gegenüber zwei Häusern mit überdachten Terrassen. Ich erinnere mich noch an einen älteren Herrn mit stattlichem Bauchumfang, weißen Hemd und Strohhut, der vor dem „Schlösschen“ stand und freundlich grüßte. Heute weiß ich, dass dieses Gebäude-Ensemble im Privatauftrag eines GAG-Direktors entworfen wurde von dem Architekten Wilhelm Riphahn (1889-1963). Allgemein hieß es, Riphahn sei auch der Erbauer der anderen rund 180 eher schlichten Häuser. Inzwischen stehen die meisten unter Denkmalschutz, auch wenn durch Parkflächen und „pflegeleichte“ Modernisierungen einiges vom Charme der über hundert Jahre alten Siedlung verloren ging.

Manfred Manuel Faber? Der Name des eigentlichen Architekten der Märchensiedlung nach englischem Vorbild war vergessen. Es gibt nur ein Foto, das ihn mit grauem Hut zeigt. Es wurde im Stadtarchiv von Grevenbroich entdeckt.  Der 1879 in Karlsruhe geborene Faber wurde im Nationalsozialismus als „Volljude“ mit Berufsverbot belegt, nach Theresienstadt deportiert und im Alter von 64 Jahren am 17.5.1944 in Auschwitz ermordet.

Wie ausgelöscht schien seine Existenz, auch wenn „seine“ Häuser bis heute gerne bewohnt werden. Erst 1988 wurde er in einem Sammelband über Kölner Siedlungen erwähnt, 2010 waren Faber und seine Arbeit Teil der Ausstellung über „Köln und seine jüdischen Architekten“. Vor einigen Jahren haben Bewohner*innen der Märchensiedlung und der von Faber im Stadtteil Riehl errichteten Naumann-Siedlung Material zusammengetragen für ihre Erinnerungsprojekte. Eine Stele mit Bronzetafel steht nun in einem Vorgarten und mehrere Tafeln informieren über die Geschichte der Märchensiedlung, in Riehl ist ein Denkmal geplant.

Am Rand des „Plätzchens“ hat die Erinnerung an den Architekten der Siedlung nun ihren Platz gefunden.

Die Gedenkfeier auf dem „Plätzchen“ mit nachdenklichen Liedern und Reden im Mai hätte Faber wohl gefallen. Auch dass Brücken geschlagen wurden zur Gegenwart des Ukraine-Krieges und der nach wie vor bestehenden Gefahr von Abgrenzung und Ausgrenzung bei aller Sehnsucht nach einem „Wohnen wie im Märchen“. Spannend finde ich, dass Faber bereits im April 1918 eine „Flugschrift“ verfasst hatte, in der er auf den drohenden „Mangel an Kleinwohnungen“ hinwies und Vorschläge für „billige Wohnungen“ machte: etwa durch Typisierung von „300 Stück zugleich“ auf einem städtischen Grundstück an der Peripherie in der Nähe einer Endstation der Straßenbahn. Wichtig war ihm aber auch „die ästhetische Seite“. Jedes Haus solle „ein besonderes Merkmal aufweisen und durch Anpflanzungen ein freundliches Aussehen erhalten“.

Fast jeden Tag gehe ich jetzt an der Gedenktafel für den Mann mit dem Hut vorbei und bin in zwei Minuten an der Straßenbahn-Haltestelle. ÖPNV, viel Grün, Apfelkompott und Kirschen für den Kuchen dank des Gartens. Faber hätte sicher auch heute Ideen gehabt. CB

Die Webseite der AnwohnerInnen-Gruppe enthält noch mehr Informationen über die Märchensiedlung: www.maerchensiedlung-koeln.de

In einem anderen Stil wurde die Naumann-Siedlung von Faber als Hauptarchitekt gebaut. Sie gilt als eines der bedeutendsten Beispiele für den Siedlungsbau in der Weimarer Republik und wurde  bis 2020 umfassend restauriert. www.naumann-nachbarn-riehl.de

Ein Kommentar zu „Der Mann mit dem Hut und der Rotkäppchenweg

  1. Ein berührender, wunderbarer Beitrag, der dazu animiert, sich mit der eigenen Geschichte zu befassen und zu reflektieren. Texte, die zum Denken geben. Vielen Dank. josch

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