Klimakonferenz, US-Zwischenwahlen, der Krieg gegen die Ukraine… dazu heute früh noch die Erinnerung an die Reichspogrom-Nacht am 9 November 1938. In der „Süddeutschen Zeitung“ warnt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Schuster, die Erinnerung an die Gräuel der Nazi-Zeit zu verdrängen. 49 Prozent der Deutschen wollten einer Umfrage zufolge einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen. Seine Empfehlung: sich mit Holocaust-Überlebenden zusammenzusetzen. Bald werde es keine Zeitzeugen mehr geben, was das „verantwortungsbewusste Erinnern nicht leichter“ mache.

„Erinnerungen in die Zukunft“ habe ich 1995, also 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine kleine Serie überschrieben. Hier ein Auszug aus
„Die Schuhe“
Die Schuhe mussten sie ausziehen und barfuß den letzten Gang antreten. So blieben die Schuhe erhalten – mit durchgelaufenen Sohlen, fehlenden Schnürsenkeln, Rissen und Löchern. Hinter Glas füllen sie einen ganzen Raum im Hauptlager von Auschwitz, das heute Gedenkstätte ist. Bei meinem Besuch halfen Geschichtsstudent*innen aus Bochum als Freiwillige, den brüchig geworden Holzboden unter den Schuh-Bergen zu erneuern. Danach tragen sie körbeweise die Schuhe durch das enge Treppenhaus und stapeln still und behutsam die Hinterlassenschaft der ermordeten Kinder, Frauen, Männer und Greise wieder übereinander. Auf der anderen Seite der Glasscheibe Pfadfinder*innen aus Israel, einige brechen in Tränen aus und drängen nach draußen auf die Lagerstraßen.
„Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht, hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 in seiner viel beachteten Rede zum 40.Jahrestag des Kriegsendes gesagt. „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
Die Schuhe der Opfer, die Stolpersteine im Pflaster von immer mehr Orten, Gedenkstätten und Museen können die Augen öffnen für Millionen individueller Schicksale, die von der Geschichtsschreibung nur schwarz auf weiß als Zahlen registriert wurden, weil sie in die Millionen gehen. Um einen einzigen Menschen in seiner Fremdheit zu verstehen, solle man „mindestens eine Meile in seinen Schuhen gehen“, rät dagegen ein Sprichwort. Das haben im Nationalsozialismus nicht viele gewagt. Von den Opfern blieben nur ihre Schuhe zurück. Als Mahnung und Aufforderung bis heute.
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Inzwischen suchen immer mehr „Zeitzeugen der zweiten Generation“ etwa in Schulen den Austausch mit Jugendlichen. „Opferkinder“ wollen sie übrigens nicht genannt werden, auch wenn das Erlebte der Elterngeneration ihr eigenes Leben beeinflusst. Digitalisiert werden die Erinnerungen an Krieg, Vertreibung und Holocaust bewahrt. Zur Immunisierung gegen neue Ansteckungsgefahren der Gegenwart und drohende Blindheit. CB

Unter www.Maximilian-Kolbe-Werk.de ist zu lesen, wie „Hilfe für Überlebende der Konzentrationslager und Ghettos“ in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas geleistet wird und was Begegnungen und Erinnerungsarbeit ausmacht. Die Organisation entstand 1973 und geht zurück auf Begegnungen deutscher Katholiken mit NS-Opfern bereits im Jahr 1964. Während des Kriegsrechts in Polen von 1981 bis 1983 und danach konnte ich Ehrenamtliche nach Auschwitz und Krakau begleiten, um darüber zu schreiben.
Ich habe sehr spät erst eine KZ Gedenkstätte besucht.
Es war Majdanek in Lublin/Polen. Es waren genau diese Berge an Schuhen die mich an meine Grenze brachten und ich körperlich dem Schmerz nicht mehr ausweichen konnte. Ein sehr intensives Gefühl der Ohnmacht. Ich konnte das Grauen zum ersten Mal fühlen. Es war da.
Jeder, jeder sollte eine Gedenkstätte besuchen.
Danke für deinen Blogeintrag dazu. 🙏🙏🙏
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