30 Minuten Ausleihe in der lebendigen Bibliothek

Die Auswahl im Kölner Vorort Mülheim ist breit gefächert an diesem Samstagmorgen. Ich studiere die ausliegenden „Buchtitel“, die eigentlich nur ein Blatt sind, und entscheide mich für „Zuflucht“.  Im „Klappentext“ auf der Rückseite des Blattes ist zu lesen, dass es um Flucht, Bedrohung und den Versuch geht, in der Fremde anzukommen. Für meine „Ausleihe“ habe ich eine halbe Stunde Zeit erfahre ich von Lisa Reitz, die erzählt: „Vor circa einem Jahr hatte ich die Idee, die Living Library auch in Köln zu veranstalten.“ Sie habe einen entsprechenden Projektantrag gestellt und erreicht, dass drei Veranstaltungen in der Stadt durchgeführt werden. Das hier ist eine Premiere.

Jetzt fungiert die Initiatorin als Bibliothekarin der anderen Art, platziert eine Eieruhr mit der eingestellten Zeit auf dem „Zuflucht“-Blatt und führt mich im Saal zu einem Tisch, an dem bereits ein junger Mann sitzt. Lächelnd, dunkelhaarig, modische Lederjacke. Neugierige Blicke hin und her, als wir uns mit Namen vorstellen, gleich beim Du sind. Schnell erfahre ich: der junge Syrer kurdischer Abstammung studierte zu Kriegsbeginn in Aleppo. Floh dann in die Türkei, um seinen Master als Englisch-Übersetzer/ Dolmetscher zu machen. Doch auch dort ist er nicht willkommen, gelangt schließlich nach Deutschland und lebt nun in Köln.

Es wird eine intensive Begegnung zwischen zwei Menschen, die sich sonst wohl nicht über den Weg laufen würden – mit 2 Minuten „Überziehen“ bei der Ausleihe. Wir loten Szenarien aus, fragen uns, ob es „deutsch“ ist, Neugierde schamhaft zu verbergen, statt das Gegenüber direkt zu fragen. Mit Humor wälzen wir die Überlegung hin und her, ob in Kneipen Alkohol leichter die Zunge löst, aber auch für schnelles Vergessen sorgt. Seine Sehnsucht: endlich einmal nach den eigenen Vorstellungen leben können. Wie er heißt, möchte ich hier nicht schreiben. Nach dem Lesen fotografiere ich ja auch kein Buch zur Erinnerung.

Der Tisch mit dem kleinen Blumenstrauß zwischen uns trägt dazu bei, sich im Dialog zu begegnen. Es ist eben kein Amts-Schalter, keine Warteschlange, kein Gedränge oder ein digitales Statement, das in den „sozialen“ Medien harsche Reaktionen auslösen könnte. Eher so, als hätte ich mich allein mit einem Buch, das aber lebend ist, in einen sicheren Raum zurückgezogen und mich auf den Inhalt konzentriert. Dabei sitzen an Tischen um uns herum andere lebendige „Bücher“ mit ihren Leserinnen oder Lesern.

Wie fand Lisa Reitz eigentlich die so unterschiedlichen Menschen? „Da kennt jemand jemanden, der jemand kennt“, fasst Lisa Reitz ihre Suche über Bekannte, auf Veranstaltungen, mit „Anzeigen“ auch auf Facebook zusammen. Und wie erlebte sie die vierstündige Leseaktion? „Ich bin sehr, sehr glücklich, zufrieden und ein bisschen erschöpft, da es eine intensive Vorbereitung war. Heute ist der Auftakt, und ich freue mich total, dass die Living Library so gut besucht wird und die Menschen schöne Begegnungen haben.“ Jedenfalls habe sie große Lust, das Projekt der Living Library Köln auch im nächsten Jahr fortzuführen. *)

Übrigens geht die Living Library, die zunächst „Human Library“ hieß, zurück auf eine Initiative dänischer Jugendlicher gegen Gewalt und Vorurteile in den 1990er Jahre. Es gibt nicht den Verein, die Stiftung, den Sponsor. Doch im Internet zeigt sich, wie das Konzept bis heute immer wieder aufgegriffen wird in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Anlässen.  

Nach meiner Lektüre verzichte ich auf eine weitere Ausleihe, bin ganz in Gedanken merke, dass darin auch das Wort Danken steckt. Für eine besondere Begegnung. Wozu auch das Motto passt, das ich in einem der Texte über die „Living Library“ fand: „A stranger is a friend you haven’t met yet“. CB

*) Wer Interesse an der Living Library Köln hat, kann sich an folgende Mail-Adresse wenden: livinglibrary.koeln@posteo.de . Geplant ist ein Newsletter, und nach neuen “Büchern“ wird auch gesucht, um den Katalog zu erweitern.

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