Erinnerungen für die Zukunft

Klimakonferenz, US-Zwischenwahlen, der Krieg gegen die Ukraine… dazu heute früh noch die Erinnerung an die Reichspogrom-Nacht am 9 November 1938. In der „Süddeutschen Zeitung“ warnt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Schuster, die Erinnerung an die Gräuel der Nazi-Zeit zu verdrängen. 49 Prozent der Deutschen wollten einer Umfrage zufolge einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen. Seine Empfehlung: sich mit Holocaust-Überlebenden zusammenzusetzen. Bald werde es keine Zeitzeugen mehr geben, was das „verantwortungsbewusste Erinnern nicht leichter“ mache.

Zerstörte Zeit – die Uhr als Mahnung.  Foto: Maximilian-Kolbe-Werk
 

„Erinnerungen in die Zukunft“ habe ich 1995, also 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine kleine Serie überschrieben. Hier ein Auszug aus

„Die Schuhe“

Die Schuhe mussten sie ausziehen und barfuß den letzten Gang antreten. So blieben die Schuhe erhalten – mit durchgelaufenen Sohlen, fehlenden Schnürsenkeln, Rissen und Löchern. Hinter Glas füllen sie einen ganzen Raum im Hauptlager von Auschwitz, das heute Gedenkstätte ist. Bei meinem Besuch halfen Geschichtsstudent*innen aus Bochum als Freiwillige, den brüchig geworden Holzboden unter den Schuh-Bergen zu erneuern. Danach tragen sie körbeweise die Schuhe durch das enge Treppenhaus und stapeln still und behutsam die Hinterlassenschaft der ermordeten Kinder, Frauen, Männer und Greise wieder übereinander. Auf der anderen Seite der Glasscheibe Pfadfinder*innen aus Israel, einige brechen in Tränen aus und drängen nach draußen auf die Lagerstraßen.

„Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht, hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 in seiner viel beachteten Rede zum 40.Jahrestag des Kriegsendes gesagt. „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Die Schuhe der Opfer, die Stolpersteine im Pflaster von immer mehr Orten, Gedenkstätten und Museen können die Augen öffnen für Millionen individueller Schicksale, die von der Geschichtsschreibung nur schwarz auf weiß als Zahlen registriert wurden, weil sie in die Millionen gehen. Um einen einzigen Menschen in seiner Fremdheit zu verstehen, solle man „mindestens eine Meile in seinen Schuhen gehen“, rät dagegen ein Sprichwort. Das haben im Nationalsozialismus nicht viele gewagt. Von den Opfern blieben nur ihre Schuhe zurück. Als Mahnung und Aufforderung bis heute.

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 Inzwischen suchen immer mehr „Zeitzeugen der zweiten Generation“ etwa in Schulen den Austausch mit Jugendlichen. „Opferkinder“ wollen sie übrigens nicht genannt werden, auch wenn das Erlebte der Elterngeneration ihr eigenes Leben beeinflusst. Digitalisiert werden die Erinnerungen an Krieg, Vertreibung und Holocaust bewahrt. Zur Immunisierung gegen neue Ansteckungsgefahren der Gegenwart und drohende Blindheit.                                                                                       CB

Vor Ort   Foto: Maximilian-Kolbe-Werk

Unter www.Maximilian-Kolbe-Werk.de ist zu lesen, wie „Hilfe für Überlebende der Konzentrationslager und Ghettos“ in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas geleistet wird und was Begegnungen und Erinnerungsarbeit ausmacht. Die Organisation entstand 1973 und geht zurück auf Begegnungen deutscher Katholiken mit NS-Opfern bereits im Jahr 1964. Während des Kriegsrechts in Polen von 1981 bis 1983 und danach konnte ich Ehrenamtliche nach Auschwitz und Krakau begleiten, um darüber zu schreiben.

Zurückgeblättert

Manchmal sitze ich vor dem Notebook und stöbere in der Vergangenheit. Während des Ukraine-Krieges erinnere ich mich an Begegnungen aus der Zeit des Bosnien-Krieges von 1992 bis 1995. Ich finde die Webseite www.bosnaquilt.at und erfahre, dass es weiter die Zusammenarbeit zwischen der Künstlerin Lucie Lienhard-Giesinger und bosnischen Flüchtlingsfrauen gibt, denen sie 1992 in Vorarlberg begegnete. Inzwischen entstehen die Entwürfe in Bregenz und werden mit den zugeschnittenen Stoffen dann zur Werkstatt von Gorazde an der Drina, rund 50 Kilometer südöstlich von Sarajevo, geliefert. Dort vollenden zurückgekehrte Frauen zuhause die Quilts, die so gar nicht bunt-gemusterten amerikanischen Patchwork-Arbeiten ähneln. Es sind Kunstwerke, die aber immer auch daran erinnern, dass wärmende Decken unentbehrlich für Flüchtlinge sind und waren.

Anlass für meinen Artikel in der Zeitschrift „Frau und Mutter“ war übrigens eine Ausstellung vor zwanzig Jahren, also 2002. Aktuelle Termine und Hinweise zu Herstellung und Verkauf finden sich auf der erwähnten Webseite.    CB

Bücher, Menschen und Lügen

Diese Woche öffnet in Frankfurt am Main wieder die Buchmesse ihre Pforten. Voller Hoffnungen nach den letzten Corona-Jahren, aber auch mit neuen Sorgen um Lieferketten sowie steigende Papier- und Energiepreise. Dennoch wird es sicher wieder Verlagsvorschauen, Gratisexemplare von Zeitungen oder Zeitschriften und ökologisch korrekte Beutel geben, um all die literarische Beute nach Hause zu transportieren.

Es ist und war immer aufregend, für ein, manchmal auch zwei Tage*) auf dem Messegelände zu sein nach der Fahrt mit einem ICE voller lesender Menschen – wer hütet während dieser Zeit eigentlich die kleinen und großen Buchhandlungen im ganzen Land? Denn die ersten Tage ist die Messe für die „Fachbesucher*innen“ reserviert, gegen Ende der Woche dürfen sich alle in den Hallen drängen – vorbei an zwei Meter breiten Ständen wirklich kleiner Verlage oder über die üppig mit Plakaten und Büchern dekorierten Flächen der großen Verlage, von denen mehr als einige inzwischen zu Konzernen gehören. Autor*innen können gegen entsprechende Zahlung ihr Werk als „Selfpublisher“ vermarkten. Sie dürfen mit Papphockern werben, auf denen das Cover ihres Buches abgedruckt ist. (So war es jedenfalls 2018 bei meinem letzten Besuch – Georgien war das Gastland, diesmal ist es Spanien).  Im Hintergrund der Stände haben die Messebauer Kammern abgetrennt, in denen Verlagsmenschen, Autor*innen und Händler in Ruhe ein Wiedersehen feiern oder sich in diesen digitalen Zeiten überhaupt erst persönlich kennenlernen, Ideen austauschen und Bestell-Listen für das Herbst- und Weihnachtsgeschäft ausfüllen. Kleine Werbegeschenke, große Namen, die sich geduldig interviewen lassen vor einer „Wand“ voll Exemplaren ihrer Neuerscheinung, Gedrängel um B-Prominente, die mit mehr oder weniger Unterstützung von „ghost writern“ die Bestseller-Listen stürmen wollen. Und die Möglichkeit, auszuruhen vor den Lese-Bühnen oder draußen auf dem Messegelände.

*) Unvergesslich die Übernachtung mit einer Freundin in einer unbekannten Altbau-Wohnung, deren Schlüssel ihr ein Freund überlassen hatte. Eine Entdeckungsreise, die mehr als zwei Sätze verdient.

„Lügen über meine Mutter“

Der Roman von Daniela Dröscher ist einer von sechs Titeln, die nominiert sind für den Deutschen Buchpreis, der heute Abend zum Auftakt der Messe verliehen wird. Egal, wer letztlich ausgezeichnet wird, das Buch hat mich fasziniert. Denn das Szenario – eine Familie, ein Dorf im Hunsrück in den 1980er Jahren- beamt nicht in Fantasy-Welten, sondern rückt sehr nah. Die Mutter strengt sich an, will beruflich weiterkommen, lernt und bleibt im Dorf des Mannes doch die Fremde. Sie genügt nicht. Ihr Mann wirft ihr permanent vor, zu dick zu sein, und macht sie damit für sein eigenes Scheitern etwa beim beruflichen Aufstieg verantwortlich. Diäten, FdH, ein Ballon in den Magen eingesetzt kein Zauber-Heilmittel bleibt unversucht, und es gibt auch wie im Märchen die böse Schwiegermutter. Tochter Ela schildert, wie innen und außen auseinanderklaffen und muss einräumen: „Schließlich war ich nicht nur Geisel, sondern auch Komplizin.“ Die Autorin sagte vor einigen Tagen im Interview mit dem österreichischen „Standard“: Dieser Frauenkörper, der beschämt wird, der nicht repräsentativ genug ist für die Angestelltenwelt des Vaters, ist ein Körper, der sich permanent abmüht. Heute würde man sagen, die Mutter beutet sich selbst aus…Wer fremd ist, ist nur gut, wenn er noch mehr leistet.“

Daniela Dröscher, „Lügen über meine Mutter“, Kiepenheuer&Witsch, Köln,24 €, e-book 19,99€

Übergangs-Gedanken

Die erste Oktoberwoche verlorene Zeit? Ohne Höhepunkte im Kalender, dafür mit Erkältungssymptomen und negativen Corona-Selbsttests. Übergangszeit war früher nur ein Wort zum Ende des Sommers und vor der „kalten“ Jahreszeit. Meine Eltern holten die Übergangsmäntel hervor, die nicht flatterhaft leicht für Sommerabende über Kleidern zu tragen waren, aber auch nicht so niederdrückend wie die Wintermäntel. Etwas robuster eben und meist als Trenchcoat auch einen Regenschauer abwehrend. Anoraks, darunter Strickjacken und an manchen Tagen noch Kniestrümpfe statt Strumpfhosen hieß das für meine Schwester und mich. (Die beiden grünen Ponchos mit Hornknöpfen und Etiketten von „Loden Frey“ mit 9,10 Jahren waren ein Ausrutscher, der schnell vergessen war. Einer der Vorteile des Wachsens.)

 Zu Beginn dieses Oktobers ist es ernst. Energie sparen die nächsten Monate. Während die Prospekte der Discounter Terrassenheizer empfehlen und die Weihnachtsbeleuchtung anpreisen- für die Lager geordert weit vor dem Beginn des Ukraine-Krieges. Rundum Erkältungs-Symptome, Herr Lauterbach hat mir geschrieben, ich solle über eine weitere Impfung nachdenken.

Kamele, Karma und Krieg – Momente der Woche

Herbst ist die Zeit, wenn gewaltige Hirsche im Wald röhren. In der Nähe des Grundl-Sees in Österreich habe ich mir ihr Wald-Konzert einmal anhören können. Stattdessen am Kölner Stadtrand in diesem Jahr Kamele. Vorboten des Klimawandels? Das im Sommer verdorrte Gras ist wieder saftig grün. Es ist ein Wanderzirkus, der jedes Jahr Station hier macht.

Im Schutz der Kamele grasen auch sehr kleine Ponys.

Am Sonntag großer Andrang vor dem Zirkuszelt und dem Stand mit den altmodischen Süßigkeiten. Aufgeregte Kinder, die Väter und manche Mütter rauchen schnell noch eine. Grelle Plakate. Es wirkt alles wie mit einer Zeitmaschine zurück gebeamt in die 1970er oder 1980er Jahre. Keine LEDs, keine Bildschirme mit Ankündigungen. Könnte der Blick in eine bescheidenere Zukunft sein.  „Vergiss nicht zu lächeln“ – heißt es auf englisch über dem Eingang zum Zelt.

Fotografiert im Oktober 2022, nicht vor Jahrzehnten.

Einkauf im Discounter, Warteschlange vor der Kasse. Ich lasse einen jungen Mann mit kleinem Sohn vor. „Danke, das gibt gutes Karma“, grinst er, als er sich an meinem Drahtwagen vorbeischiebt. Das hat er sich schon verdient, denke ich. Denn er hatte einer desorientiert wirkenden älteren Dame den Weg zum Backpulver gewiesen. Zuhause googele ich und merke, dass Karma (Sanskrit, Hinduismus, Buddhismus…) das neue Zauberwort zu sein scheint. Es geht um Ursache und Wirkung, wer Gutes verbreitet, dem widerfährt nur Gutes. Kann aber auch schiefgehen…und jede Menge Fragen aufwerfen: wird gutes Karma aufgewogen? Baut sich schlechtes Karma ab und wie lange dauert das?

Samstag um 12 die wöchentliche Mahnwache seit Kriegsbeginn im Februar. „Dona nobis pacem“ – klingt es mehrstimmig über die Hauptstraße des Vororts. Ein Gebet und ein paar Worte des katholischen Diakons, der auch für zwei Kleiderkammern zuständig ist. Dorthin kämen weiter ukrainische Familien, aber auch Menschen aus Russland, berichtet er. Und es falle kein lautes Wort, es gebe keinen Streit, vielmehr gegenseitige Unterstützung und Übersetzungshilfen für die ehrenamtlichen Helfer*innen.  Was ja auch gutes Karma genannt werden kann.  CB

Über das Suchen und Entdecken von Büchern

Meist passiert es im Alltag: zehn Minuten Zeit zu früh vor einem vereinbarten Treffen verleitet die Buchhandlung dazu, am Eingang die Stapel mit den Neuerscheinungen zu sichten. Oder ein Fund im „Bücherschrank“ an der Haltestelle lädt zu unverbindlichem „Anlesen“ ein. Und immer wieder einmal die Erwähnung von Autoren-Namen und aufblitzende Erinnerungen an frühere Werke, die mich hineingesogen haben in bis dato unbekannte Welten. So taucht dann das Vorkriegs-Dresden am schwarzen Sandstrand von La Palma auf oder die Party-Szenerie New Yorks auf dem Balkon einer österreichischen Ferienwohnung… Drei Titel aus meinem aktuellen Bücher-Stapel:

Stay away from Gretchen – eine unmögliche Liebe

Roman von Susanne Abel, erschienen 2021, inzwischen im dtv-Verlag als Taschenbuch für 12,95€.

OMG (Oh my God!) – was für ein Szenario! Ein bekannter Fernsehmoderator, der routiniert die bekanntesten Politiker*innen interviewt, herrisch sein kann, aber auch empathisch angesichts völlig unbekannter Menschen. Er kümmert sich sporadisch um seine 84jährige Mutter, doch Telefonate reichen bald nicht mehr. Denn diese Greta macht merkwürdige Dinge, und auch mit Unterstützung einer Nachbarin lässt sich der Schein des Alltags einer wohlhabenden Seniorin immer weniger aufrecht erhalten.  Die Autorin, eine erfahrene Dokumentarfilmerin, schafft laufend Bezüge zur Lebenswirklichkeit vieler. Mit der Demenz entfaltet sich die bisher versteckte Geschichte Gretas: die Flucht aus Ostpreußen, die Nachkriegszeit im amerikanisch besetzten Heidelberg, die Liebesbeziehung zu einem farbigen GI, das Schicksal der„brown babys“. Das alles ist spannend inszeniert. Mich beeindruckt, dass es in Roman-Form um sonst gerne verdrängte Familien-Themen geht. Demenz, Familiengeheimnisse, transgenerationale Traumata.  Die Regale mit Sachbüchern dazu werden sonst links liegen gelassen. „Stay away from Gretchen“ ist eine Titel-Liste mit Empfehlungen angefügt. Und Susanne Abel schreibt weiter…

„Kummer aller Art“

Literarische Kolumnen von Mariana Leky, Dumont Buchverlag, geb. 22 €, 2021

Lekys Bestseller „Was man vor hier aus sehen kann“, inzwischen auch als Taschenbuch erhältlich, habe ich oft verschenkt an ganz unterschiedliche Menschen – und alle hat diese skurrile, kluge und humorvolle Dorf-Geschichte erreicht. Nun also kurze Texte für diejenigen, die neben den großen Problemen von Klimawandel bis Ukraine-Krieg in Lekys Begleitung dem „Kummer aller Art“ in der Nachbarschaft, im Park oder mal auf der Bahnhofstoilette begegnen können. Auch dabei geht es um Großes wie Zwänge, Verzweiflung, Einsamkeit, die Suche nach Entspannung, das Hadern mit dem Leben. Patentlösungen finden sich nicht in den Schilderungen, aber die Begegnungen und das gemeinsame Spazieren, Zuhören und Reden bringen weiter. Mir kam der Appell des Vaters in Lekys Dorf-Roman in den Sinn: „Ihr müsst dringend mal ein bisschen mehr Welt hineinlassen.“

WIR HERRENMENSCHEN – unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte

Von Bartholomäus Grill. Pantheon-Verlag, Taschenbuch 16,00, 2021, die Originalausgabe erschien 2019.

Der Fahrer eines Kölner Linienbusses mit mir als einzigem Fahrgast musste mich daran erinnern, dass sein Heimatland Kamerun auch deutsche Kolonie war. 29 Millionen Menschen leben heute, wo 1884 ein deutscher Generalkonsul „Schutzverträge“ mit regionalen Herrschern abgeschlossen und Kamerun zur Deutschen Kolonie erklärt hatte. Durch den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg ging das Land an den Völkerbund, der Frankreich und Großbritannien ein Verwaltungsmandat erteilte. Ach ja, Namibia mit seinen deutschen Ortsnamen ist heute ein beliebtes Reiseziel. „Tönt es wie ferne Klänge von Trägern und Askari: Heia, heia Safari“ – als Kind lernte ich dieses Lied ohne zu wissen, wer das war: zwangsrekrutierte namenlose Hilfstruppen des Deutschen Reiches in Ostafrika. Ein großer „blinder Fleck“.

Wie gut, dass Bartholomäus Grill in seinem Buch mitnimmt auf Expeditionen in die deutsche Kolonialgeschichte. Er lebt in Kapstadt und hat als Korrespondenz der „Zeit“ und des „Spiegel“ vier Jahrzehnte lang aus Afrika berichtet.  Hundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit macht er eine „kollektive Amnesie“ und „verharmlosende Stereotypen“ aus. Vor allem aber konstatiert er, dass nach wie vor die Medien des Westens eine Deutungshoheit über Afrika ausüben. Grill räumt ein, als Korrespondent nicht immer gefeit gewesen zu sein „gegen den mitleidsvollen Ton der Viktimisierung“. Nach dem Lesen bleibt die Erkenntnis, dass noch viel Wissen und Begegnungen mit den Menschen des „Nachbarkontinents“ fehlen. Denn die Frage lautet: „Haben wir es tatsächlich geschafft, die alten kolonialen Denkmuster zu überwinden?“

„When I’m 64“: von Statistiken und Songs

Unvermittelt das Lied im Autoradio: „When I’m 64“ gehörte zum Repertoire meiner Schwester und mir. Sie konnte Gitarre spielen, und wir verfügten seit Sprachferien nahe London über das das „Beatles-Songbook“.  Wie auf Knopfdruck kann ich Pop-, Folk- und andere „Oldies“ mitsingen, nicht nur von den „Pilzköpfen“.  (Ein Freund schrieb neulich, er könne 30 Gedichte auswendig, die ihm viel bedeuteten. Respekt!)

Jetzt bin ich schon einen Monat selbst 64. Es war nichts als die Idee einer Eintagsfliege, den Geburtstag mit einer „magical mystery“ Party zu feiern. Aber zurück zum Song: ich habe keine Haare verloren – wohl eher ein Problem mancher Männer- und habe nicht selbst gefragt: „Will you still need me, will you still feed me/ when I’m 64?“ Auf Hilfe angewiesen war ich schon mit 50 für einige Wochen nach dem Bruch des Sprunggelenks.  „You’ve got a friend“ – darauf kann ich mich bisher mit Carole King verlassen, wenn es mal eng wird.

Bis heute präsent auch im Internet wie dieser Screenshot zeigt

Die „New York Times“ hat sich über die Fragen, die Paul-McCartney im Song stellte, Gedanken gemacht, als der Beatle 64 wurde. Das war 2006.  Als Teenager aus Liverpool hatte er ironisch gefragt, ob er denn „many years from now“ weiter mit Liebe, Treue, Familie und Fürsorge auch für den Garten sowie selbstgestrickten Pullovern rechnen könne. Wie es heißt, schrieb er den Text für seinen Vater. In Pauls Geburtsjahr 1942 betrug in Großbritannien die durchschnittliche Lebenserwartung eines Jungen 63 Jahren.  Erschreckend aus heutiger Sicht. Die im letzten Monat veröffentlichte Berechnung des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden kommt für heute 60-jährige Frauen auf durchschnittlich mehr als 25 weitere Jahre und für Männern noch 21 Jahre.

Paul McCartney kann dieses Jahr seinen 80. feiern, steht weiter auf der Bühne und scheint Bob Dylans Wunsch „Forever Young“ nachzueifern. Prominent, reich und doch, so Beatles-Biograph Bruce Spizer, hätte er wohl gerne mit seiner 1998 verstorbenen Frau Linda länger das Glück der kleinen Dinge wie die Gartenarbeit geteilt.

Die Sonne eingefangen, verschenkte Ernte aus einem Schrebergarten

Vor Jahren schon bescheinigte US-Starautorin Gail Sheehy den 64-Jährigen einen „360 Grad- Rundum-Blick auf das Leben“. Sie könnten an gestern glauben und nicht aufhören über morgen nachzudenken. Was mein Gedächtnis einen weiteren Beatles-Song abrufen lässt: „Yesterday“, als der Ärger noch so weit weg war. Ukraine-Krieg, Klimawandel, soziale Verwerfungen, private Konflikte… stimmt nicht, Probleme und überhaupt Veränderung gab es immer als Begleitmusik des Lebens.

Ich verheddere mich dabei, die ganzen Statistiken und Prognosen in Relation zum eigenen Leben zu setzen. So viel lässt sich dadurch nicht erfassen; die Routinen vom Aufwachen bis zum Einschlafen, überraschende Begegnungen, Ärger und kleine Glücksmomenten wie das Geschenk von Tomaten beim Vorbeigehen an Schrebergärten. Köstlich! „An Tagen wie diesen“ von den Toten Hosen muss es nicht um gloriose Sporterfolge und ausverkaufte Konzertsäle gehen. Wie Campino – immerhin auch schon 60 – im ZDF über das Altwerden sagte: Die Dinge zu würdigen, die einem widerfahren sind, werde leichter. Ein tröstlicher Satz. Nach einer anspruchsvollen Wanderung gestern im Bergischen Land kann ich noch eins draufsetzen:  der letzte Anstieg vorbei an Apfelbäumen voller Früchte, dann die Tische des Bauern-Lokals auf einer Wiese. In der Luft schweben Töne und Worte einer Sängerin, die nur mit ihrer Gitarre Leonard Cohens „Halleluja“ intoniert. Das sind Tage, das Leben zu feiern.  CB

Hundstage

Ende Juli haben die so genannten Hundstage begonnen, die aber nichts mit den konkreten Vierbeinern zu tun haben, die derzeit gerne auf kühlen Stein- und Fliesenböden ruhen und nur im schattigen Wald herumflitzen.  Die heißesten Tage des Jahres sind sie aus meteorologischer Sicht auch nicht. Der Name stammt aus römischer Zeit und bezieht sich auf das Sternbild „Großer Hund“ und den Doppelstern Sirius. An den Hundstagen ging Sirius gemeinsam mit der Sonne auf und unter. Jahrhunderte später beginnt diese astronomische Periode erst Ende August. Mehr Infos lassen sich im Internet finden.

Hier nun drei der Hitze und der politischen Lage in diesem Sommer 2022 abgetrotzte Texte.

Hunde-Suche

Der Schneider, der so genial Löcher flicken und Reißverschlüsse reparieren kann, erwägt den Kauf eines Hundes. Das Gespräch dreht sich um Hundesteuer, Haftpflicht, Futter – und die Suche nach einem nicht haarenden Pudel im Internet oder über Bekannte, die Bekannte haben, die günstig einen Welpen beschaffen könnten. Da sträuben sich mir die Nackenhaare so, als träfe mein freundlicher Hund eine bissige Bestie. Wir sind allein zwischen Kleiderständern und Nähmaschinen. Ich packe das ganze Argumentations-Besteck meines nun schon elf Jahre währenden Lebens mit Funny aus: Zucht-“Fabriken“ geldgieriger Händler, die Gefahr von Erbkrankheiten und „Macken“, wenn der „Genpool“ immer kleiner wird. Das Risiko, dass der teure Welpe doch nicht reinrassig ist. Für eine Anfänger-Familie die Vorteile eines erwachsenen Hundes, der noch etwas Erziehung braucht. Dass die Tierheime auch junge Hunde vermitteln, ohne dafür Reklame zu machen. Die Menschen dort haben auch genug Tier- und Menschenkenntnis, um die Kombination zu ermitteln, die beide Seiten glücklich werden lassen kann. Dazu der einzigartige Charme und die Robustheit der Mischlinge.

„Das ist mein Kind ja eigentlich auch“ – unterbricht der Schneider mit einem breiten Strahlen im Gesicht meinen Redefluss, als ich tief durchatmen muss. Er sei schließlich Kurde und die Familie seiner Frau stamme aus Polen. Selbsterkenntnis hat eine größere Wirkung als meine Argumente.   CB

Funny, der Weimaraner/Retriever-Mix setzt sich in Pose

Vorräte für den Winter

Der Apfelbaum im Garten hat sich vorigen Monat verletzt. Ein Sturmstoß hat einen der Hauptäste fast abbrechen lassen. Eine Amputation war unumgänglich, viele noch nicht reife Äpfel wanderten auf den Kompost. Eine traurige Folge werden weniger selbst gemachter Kompott für das Vorrats-Regal und Saft-Boxen von der mobilen Most-Kelterei sein. Dafür gibt es auf Facebook jetzt Gruppen, die sich mit dem Thema Einmachen beschäftigen. Sie stoßen auf großes Interesse, denn viele befassen sich offenbar das erste Mal mit den Möglichkeiten, in Weck-Gläsern und aufbewahrten alten Gläsern mit Schraubdeckeln Vorräte für den bevorstehenden Winter einzuwecken. Da werden Abkürzungen erläutert wie EKA – Einkoch-Automat oder stattdessen die Nutzung des Backofens empfohlen. Vieles ist mir vertraut aus der Kindheit mit großem Garten, mit Obstbäumen und Gemüse-Beeten. Aber neu hinzugekommen sind Ideen etwa aus der italienischen Küche, die sich lohnen ausprobiert zu werden.

Der alte Apfelbaum im letzten Jahr, nun fehlt der rechte Hauptast

Corona und Verbrechen anderswo

Die Nachrichten sind manchmal schwer zu ertragen, die Vernunftsentscheidung auf Reisen zu verzichten (wegen Klima, Corona, Krieg) ist anstrengend trotz Garten und Vorort. Bücher können mich in ferne Gegenden „beamen“. Deshalb der Griff zum neuen Jerusalem-Krimi von Alfred Bodenheimer, dem ersten Fall der Polizeipsychologin Kinny Glass. Spannend, während des Lesens die eine oder andere Ecke Jerusalems zu erkennen bei der Suche nach dem Mörder einer Knesset-Abgeordneten und ihres Mannes mitten im Lockdown.  Sie waren befreundet mit Kinny, private mischen sich mit den gesellschaftlichen und politischen Schwierigkeiten in Israel. Der Autor ist in Basel Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte, lebt aber auch in Jerusalem und schrieb bisher Krimis mit einem Zürcher Rabbi als Hauptfigur.  Bodenheimer meint selbst, der Fall in Jerusalem sei kein „beinharter Blutkrimi“ sondern eher eine „Gesellschaftsparabel“.

Alfred Bodenheimer, „Mord in der Straße des 29. November- ein Jerusalem-Krimi“, Kampa-Verlag, Zürich

Itztrubal heißt der Hund der Zeuge des Mordes wird

Über Momente abseits der Nachrichten und ein paar Tränen

Derzeit findet in Düsseldorf eine riesige Kirmes statt. Sehr bunt ist alles dort – von der rosa Zuckerwatte und den metallisch glänzenden Luftballons bis zu den „Fahrgeschäften“, die in allen denkbaren Farbschattierungen glänzen: Menschenmengen schieben sich an den Attraktionen vorbei, und wie immer stöhnen die Schausteller-Familien wechselweise über Hitze oder Dauerregen.

Sommer eben. Auch zu erkennen an leeren Parkplätzen, wo vor Wochen die seit Corona-Beginn erworbene Caravans und Wohnmobile auf ihren Einsatz zu lauern schienen. Das Handy liefert stündlich andere Urlaubs-Impressionen. An manchen Tagen scheint es, als sei halb Deutschland aufgebrochen zum Baden an Kroatiens Küsten. Aber es gibt auch einsame Wanderer auf Pilgerpfaden oder abenteuerliches Grau aus Wolken und Wellen um ein Segelboot. Verreiste Nachbarn überlassen denjenigen, die zu Hause bleiben, die Nutzung des neu aufgestellten Swimmingpools.

Wenn nur die Nachrichten nicht wären, die pausenlos die Schrecken dokumentieren: Waldbrände, Prognosen über die Folgen schwindender Gas-Mengen und das Kontroll-Chaos an den Flughäfen sind da noch „leichte Kost“.  Nicht gewöhnen kann ich mich an die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine und dann aus ganz anderen Regionen die Bilder hungernder Kinder wegen erschwerter Versorgung mit „Lebensmitteln“. Unbeantwortet bleiben die Fragen, was derzeit in Regionen wie Syrien, Afghanistan oder Somalia geschieht – und ob ich das wirklich auch noch erfahren will.

„Einfach mal die Welt abschalten“ hat Kurt Kister, lange Jahre Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ seinen Text überschrieben, um dann zu konstatieren: „Weil das aber nicht geht, schaltet man die Nachrichten aus der Welt ab. Menschen mögen nur eine begrenzte Zeit lang überwiegend schlechte Nachrichten hören (müssen).“ Doch wer schafft das schon – und bietet nicht die „Tagesschau“ um 20 Uhr das nostalgische Gefühl der Verbundenheit mit Millionen anderer „User“?

Wo sich im Alltag immer wieder ein Gefühl der Vereinsamung aufdrängt, dazu auch manchmal Neid auf das ungetrübt erscheinende Sommervergnügen anderer. Nicht nur auf der Kirmes.

In der Kölner Innenstadt demonstrierten noch tausende Menschen gegen den Angriff auf die Ukraine – und Flüchtlinge bedankten sich lautstark für die Unterstützung.

Am 150. Kriegstag stolperte ich heute im Kölner Vorort förmlich über rund 60 Menschen, die sich dort seit Kriegsbeginn jeden Samstag um 12 Uhr zu einer „Mahnwache – Frieden in der Ukraine und überall“ versammeln. Ein paar Bläser, ein Text- und Liedblatt, ein Mann mit Mikro und kleinem Verstärker. Die katholischen und evangelischen Gemeinden bereiten die Mahnwachen vor. Allein das Singen von „Hewenu schalom alejchem“ oder „Dona nobis pacem“ lässt meinen Atem fließen und auch ein paar Tränen. Der Körper erinnert sich an frühere Erfahrungen. Kraft und Zuversicht können sich ausbreiten, wenn ich mich traue, Angst und Erschrecken ebenso zu teilen wie Freude über Feste und gelungenes Leben.

Am Ende der Mahnwache steht ein übersetztes Gebet aus der Lutherischen Kirche in Russland und der orthodoxen Kirche in der Ukraine:

„Sieh herab auf die Klagen derer, die unter dem Krieg in der Ukraine leiden –

und auf alle, die sich vor einem größeren Krieg fürchten….

Lass uns alle abrüsten mit Worten und Taten…

Bewahre uns vor der Willkür der Mächtigen dieser Welt und bringe sie zur Erkenntnis ihrer Grenzen.“   

Der Mann mit dem Hut und der Rotkäppchenweg

Aufgewachsen bin ich in der „Märchensiedlung“ im rechtsrheinischen Köln nach den Regeln der 1960er Jahre: alle Erwachsenen grüßen, kein Krach in der Mittagszeit, Bitte und Danke, nicht neugierig fragen. Das Kopfsteinpflaster sorgte für zerrissene Strumpfhosen und Narben. Von einer wilden Verfolgungsjagd zeugt bis heute ein beschädigter Fingernagel, eingeklemmt durch das rettende grün-weiße Holztörchen zum Vorgarten. Es gab wenige Autos und hohe Hecken, Obstbäume, Gemüsebeete und natürlich den Sandkasten auf dem mechanisch gemähten Rasen.  Zwischen den Gärten nicht immer verschlossene und damit zu erkundende „Mist-Wege“ und ein Spielplatz im Schatten von Kastanienbäumen. Das Haus aus den 1920er Jahren war nur teilunterkellert für Kartoffeln und Briketts. Der Kachelofen beheizte auch den ersten Stock, aus der Waschküche dampfte es an Montagen, auf dem Hof die Regentonne und darunter eine Sickergrube. Mein Großvater hatte das Haus im Mietkauf von der Wohnungsbaugesellschaft GAG erworben. Als ich acht Jahre alt war, zogen wir dann nebenan in den Neubau, das Eckgrundstück war groß genug, nur der riesige Kirschbaum, der Mirabellenbaum und eine Kiefer wurden geopfert.

Englische Gartensiedlungen waren das Vorbild. Die Frage erübrigt sich, welches Karnevalskostüm ein Mädchen wohnhaft im Rotkäppchenweg zu tragen hatte… GAG-Archiv.

Vom „Plätzchen“ im Rotkäppchenweg zweigt das Rapunzelgässchen ab – mit imponierender Villa   und gegenüber zwei Häusern mit überdachten Terrassen. Ich erinnere mich noch an einen älteren Herrn mit stattlichem Bauchumfang, weißen Hemd und Strohhut, der vor dem „Schlösschen“ stand und freundlich grüßte. Heute weiß ich, dass dieses Gebäude-Ensemble im Privatauftrag eines GAG-Direktors entworfen wurde von dem Architekten Wilhelm Riphahn (1889-1963). Allgemein hieß es, Riphahn sei auch der Erbauer der anderen rund 180 eher schlichten Häuser. Inzwischen stehen die meisten unter Denkmalschutz, auch wenn durch Parkflächen und „pflegeleichte“ Modernisierungen einiges vom Charme der über hundert Jahre alten Siedlung verloren ging.

Manfred Manuel Faber? Der Name des eigentlichen Architekten der Märchensiedlung nach englischem Vorbild war vergessen. Es gibt nur ein Foto, das ihn mit grauem Hut zeigt. Es wurde im Stadtarchiv von Grevenbroich entdeckt.  Der 1879 in Karlsruhe geborene Faber wurde im Nationalsozialismus als „Volljude“ mit Berufsverbot belegt, nach Theresienstadt deportiert und im Alter von 64 Jahren am 17.5.1944 in Auschwitz ermordet.

Wie ausgelöscht schien seine Existenz, auch wenn „seine“ Häuser bis heute gerne bewohnt werden. Erst 1988 wurde er in einem Sammelband über Kölner Siedlungen erwähnt, 2010 waren Faber und seine Arbeit Teil der Ausstellung über „Köln und seine jüdischen Architekten“. Vor einigen Jahren haben Bewohner*innen der Märchensiedlung und der von Faber im Stadtteil Riehl errichteten Naumann-Siedlung Material zusammengetragen für ihre Erinnerungsprojekte. Eine Stele mit Bronzetafel steht nun in einem Vorgarten und mehrere Tafeln informieren über die Geschichte der Märchensiedlung, in Riehl ist ein Denkmal geplant.

Am Rand des „Plätzchens“ hat die Erinnerung an den Architekten der Siedlung nun ihren Platz gefunden.

Die Gedenkfeier auf dem „Plätzchen“ mit nachdenklichen Liedern und Reden im Mai hätte Faber wohl gefallen. Auch dass Brücken geschlagen wurden zur Gegenwart des Ukraine-Krieges und der nach wie vor bestehenden Gefahr von Abgrenzung und Ausgrenzung bei aller Sehnsucht nach einem „Wohnen wie im Märchen“. Spannend finde ich, dass Faber bereits im April 1918 eine „Flugschrift“ verfasst hatte, in der er auf den drohenden „Mangel an Kleinwohnungen“ hinwies und Vorschläge für „billige Wohnungen“ machte: etwa durch Typisierung von „300 Stück zugleich“ auf einem städtischen Grundstück an der Peripherie in der Nähe einer Endstation der Straßenbahn. Wichtig war ihm aber auch „die ästhetische Seite“. Jedes Haus solle „ein besonderes Merkmal aufweisen und durch Anpflanzungen ein freundliches Aussehen erhalten“.

Fast jeden Tag gehe ich jetzt an der Gedenktafel für den Mann mit dem Hut vorbei und bin in zwei Minuten an der Straßenbahn-Haltestelle. ÖPNV, viel Grün, Apfelkompott und Kirschen für den Kuchen dank des Gartens. Faber hätte sicher auch heute Ideen gehabt. CB

Die Webseite der AnwohnerInnen-Gruppe enthält noch mehr Informationen über die Märchensiedlung: www.maerchensiedlung-koeln.de

In einem anderen Stil wurde die Naumann-Siedlung von Faber als Hauptarchitekt gebaut. Sie gilt als eines der bedeutendsten Beispiele für den Siedlungsbau in der Weimarer Republik und wurde  bis 2020 umfassend restauriert. www.naumann-nachbarn-riehl.de

Karin, Susanne, Nora und die Frage, was ich sammele (Teil 2)

„Was sammelst Du eigentlich außer Büchern?“ Noras Frage hat Nachdenken ausgelöst, auch biographisches. Das klingt großspurig, dabei meine ich damit die schon früh begonnene Suche nach weiblichen Vorbildern, die nicht der Norm der Hausfrau und Mutter in den 1960er Jahren entsprachen, als Berufstätigkeit noch die Zustimmung des Ehemannes voraussetzte.

Karin H. war meine Kunstlehrerin und eine der ganz wenigen Frauen, die „ihr Ding machten“ und Alleinleben nicht als Makel empfanden. Sie hatte gerade an dem Mädchengymnasium angefangen zu unterrichten nach Jahren an einer „Privatschule“ in der Schweiz, was für uns Ende der 1960er Jahre schon einen Hauch von Glamour verbreitete. Von ihren Ferienreisen brachte sie uns Skizzenbücher mit. Wenige Striche reichten ihr, die verschiedenen Landschaften in ihrer Unterschiedlichkeit zwischen Seen und Bergen, Sonne und Wolken zu verewigen. Als habe es noch keine Kodak-Kameras mit Abzügen in heute längst verblichener Farbigkeit gegeben.

Ihre Schülerinnen nahm sie einfach mit zu „Vernissagen“ oder zum Kölner Kunstmarkt, der ab 1967 stattfand. (Die Arbeit von Joseph Beuys, “The pack“ (Das Rudel), mit VW-Bus und 24 Holzschlitten wurde 1969 als erstes zeitgenössisches deutsches Kunstwerk für über 100 000 DM verkauft. ) Es gab Installationen statt gerahmter Motive in Ölfarben. Karin H. ließ uns bestaunen, womit sie sich selbstverständlich umgab. Schnell versank sie in gestenreichen Gesprächen mit Künstlern und Galeristen. Für mich lagen Welten zwischen der Kunst und dem Alltag mit Schule und Vorort. Unvergesslich der zur Handtasche umfunktionierte Plüschhund. Er baumelte am Arm der „Muse“ eines Künstlers, der Atelier und Wohnung unter der Fahrbahn im Inneren einer Brücke bezogen hatte. Karin H. fuhr einen schwarzen VW-Käfer, der das so alt war wie ich.  Mit aufgeklapptem Dach ragten oft große Papp-Rollen weit über die Rücksitze.

Eben habe ich im Internet nach Flamenco-Kursen für Ü60-Menschen wie mich gesucht. Beim Wiedersehen nach Jahrzehnten hatte Karin H. strahlend von diesem Tanz erzählt, den sie während ihrer Zeit an der deutschen Schule in Madrid gelernt hatte. Ihre ergrauten Locken wippten, selbst im Sitzen stapften ihre Füße auf. Ein letztes Bild von ihr.

Was für eine Aussage an der Fassade eines aufgelassenen Kölner Kaufhauses der gehobenen Klasse! Innen will und muss das Stadtmuseum die Zeit der Renovierung des bisherigen Gebäudes überstehen. Bizarre Fragen tauchen auf: Braucht womöglich jeder im Verlauf des Lebens ein Museum, um all die Erfahrungen und Erinnerungen zu bewahren? Wie zuverlässig ist das eigene Gedächtnis? Wohin mit den vielen Teilstücken und Episoden, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden sollen? Und wen interessieren jene Schmuckstücke des Lebens, die sich hinter Glas oder im Inneren von Alben und digital auf Sticks finden? Und wer sortiert und entstaub das alles, wer öffnet die Eingangstür?

Bücher als Begleiter können eine Alternative sein. „Stellen Sie sich Ihre Familiengeschichte als einen Band vor, den Sie im Regal stehen haben, den Sie herausnehmen und nur darin blättern, wenn Sie es wirklich möchten.“ Der Vorschlag stammt von einer Krankenhaus-Seelsorgerin und blieb im Gedächtnis. So wie die Bücherregale in der Berliner Altbau-Wohnung meiner inzwischen verstorbenen Kollegin Susanne H. – ein Wall von Wissen und Poesie. Vergangenheit und Gegenwart, trat sie mit einer Palette von Gefühlen und klarem Verstand entgegen. Empörung und Wut, wie Menschen mit Menschen umgehen. Präzise Aufmerksamkeit für das, was anderen zu klein für eine Meldung erschien – wegen der Entfernung oder einfach wegen fehlendem Gespür und Wissen für die sich nähernde Bedrohung. Dazu ihre Gastfreundlichkeit, die warme Umarmung am Eingang und die Essen an dem langen Tisch mit den unterschiedlichen Stühlen, wenn ich sie besuchte. Ihre Erzählungen von Familie und Freundschaften, die weniger werdenden Zigaretten. Groß und rot dominierte ihre Kaffeetasse jahrelang den Schreibtisch in der Redaktion. Sie hat sie zurückgelassen beim Umzug von Köln nach Berlin. Jetzt ist die Tasse, in die mehr als nur ein Schluck beruhigenden Tees passt, schon lange neben meinem Notebook im Einsatz. Eben keine „Sammeltasse“ mit Goldrand und Ranken-Deko.

Nora taucht wieder auf. (Zur Erinnerung; das ist die Frau mit der Frage nach meinen Sammel-Vorlieben.)  Durchs Fenster sehe ich auf ein Beet, aus dem eine Sonnenblume aus Blech ragt.  Im letzten Herbst hat Nora sie uns mitgebracht – als die Ukraine noch in weiter Ferne lag und der nicht enden wollende Krieg nicht mehr war als ein Wort mit drohendem Unterton. CB

                                                                                 CB